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Mobilität auf dem Land

Vom Bürger zum Busfahrer

08. November 2018

Wer sich auf dem Land kein Auto leisten kann oder zu jung oder zu alt ist zum Fahren, der hat ein Problem. Denn der öffentliche Nahverkehr fährt meist selten und auch nicht überallhin. Wie Kommunen und Verkehrsbetriebe Menschen ohne eigenes Auto künftig an ihr Ziel bringen wollen, haben wir im ersten Teil unserer Mini-Serie vorgestellt. Doch auch engagierte Bürger können für mehr Mobilität auf dem Land sorgen – mit Bürgerbussen oder Mitfahrbänken.

Lange Jahre ging es den Bewohnern des baden-württembergischen Kleinstädtchens Murg wie vielen Einwohnern ländlicher Regionen. Stieg man abends nach einem langen Arbeits- oder Schultag aus dem Zug, benötigte man ein eigenes Auto oder motorisierte Familienmitglieder, um vom Bahnhof nach Hause zu kommen. Denn ab 19 Uhr fährt kein Bus mehr in die Ortsteile Niederhof, Oberhof und Hänner. Zumindest war es so bis 2014. Seither werden abends, wenn der Linienbus seinen Betrieb einstellt, Bürger als ehrenamtliche Taxifahrer aktiv.

Um den Pendlern und Reisenden der Regionalbahn eine Anschlussfahrt in die Ortsteile des Städtchens zu bieten, haben sie mit einem Elektrobus einen eigenen Linienbetrieb mit festen Takten aus der Taufe gehoben. Der „Bürgerbus“ ist ein voller Erfolg. Anfangs nur am Wochenende im Einsatz, fahren die freiwilligen Busfahrer wegen der großen Nachfrage seit 2016 auch an Wochentagen. Im Juli 2018 chauffierten sie ihren 15.000. Fahrgast. Die Bürgerbusse sollen nicht nur Menschen ohne Auto flexibler ans Ziel bringen und Autobesitzer dazu motivieren, ihr Gefährt einmal stehen zu lassen. Die Kommune, die die Kosten für den Elektrobus, für Strom und Unterhalt übernimmt, will damit auch das soziale Miteinander fördern. Und Murg ist kein Einzelfall. Allein in Baden-Württemberg listet die Nahverkehrsgesellschaft 84 vergleichbare Bürgerbusprojekte auf. Bundesweit waren laut Dachverband „Pro Bürgerbus NRW e.V.“ 2017 rund 330 Bürgerbusse unterwegs, 127 davon in Nordrhein-Westfalen.

Vorbild Niederlande

Nordrhein-Westfalen gilt in Deutschland als Pionier und Hochburg der ehrenamtlichen Busverbindungen. Inspiriert von den „Buurtbussen“ in den benachbarten Niederlanden wurde hier bereits 1983 das Projekt „BürgerBus“ vom Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung initiiert. Mittlerweile kurven 137 Bürgerbusse durch die Dörfer, Ortschaften und Kleinstädte des Flächenlands.

Gefördert werden die ehrenamtlichen Mobilitätsinitiativen in NRW, Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen von den Ländern. Sie fördern die Anschaffung der Fahrzeuge, finanzieren den Personenbeförderungsschein für die ehrenamtlichen Busfahrerinnen und Busfahrer und eine Organisationspauschale für die Bürgerbusvereine. Erst 2017 erhöhte die damalige Landesregierung Nordrhein-Westfalen die Fördersätze. Rollstuhlgerechte Busse mit Elektro- oder Wasserstoffantrieb werden seither mit bis zu 77.000 Euro gefördert, die Organisationspauschale pro Verein wurde von 5.000 auf mindestens 6.500 Euro erhöht. Die Landesregierung wolle damit „die mit hohem ehrenamtlichen Einsatz tätigen Bürgerbusvereine stärken und dafür sorgen, dass dieses Erfolgskonzept noch weiter wachsen kann“, so der damalige Verkehrsminister Michael Groschek. Damit solche Projekte langfristig funktionieren, braucht es natürlich engagierte Bürger mit genügend Zeit. Die meisten der ehrenamtlichen Busfahrer sind im Rentenalter – und werden naturgemäß nicht jünger. Einige Projekte wie in Gransee in Brandenburg werden daher von Nachwuchssorgen geplagt.

Aber wird hier nicht nur der Mangel verwaltet, wenn Kommunen ihre Aufgaben an engagierte Bürger auslagern? „Nicht unbedingt“, sagt Melanie Herget, Expertin für Mobilität im ländlichen Raum am Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) in Berlin. Natürlich dürften keine regulären Busverbindungen eingestellt und durch Bürgerbusse ersetzt werden, „aber ohne eine Reform des ÖPNV-Finanzierungssystems haben die Kommunen einfach oft kein Geld für erforderliche Mobilitätsdienstleistungen“. Bürgerschaftliches Engagement kann insofern ein wichtiger Baustein sein, um Menschen ohne eigenes Auto mobiler zu machen. Allerdings funktionieren solche Projekte nicht an jedem Ort und in jeder Gemeinde gleichermaßen gut. „Je stärker sich Menschen mit ihrem Wohnort und ihrer Region identifizieren, desto eher sind sie bereit, sich zu engagieren“, so Herget.

Bequemer trampen auf der Mitfahrbank

Um gerade ältere Menschen in Dorf oder Kleinstadt mobiler zu machen, werden auch alte Ideen wiederbelebt. In dem kleinen Ort Speicher in der Eifel hat man das Trampen wiederentdeckt – und bequemer gemacht. Senioren, die nach einer Fahrgelegenheit in die nächste Ortschaft suchen, steuern seit 2014 eine Mitfahrbank vor dem Rathaus an. Ausgestreckte Daumen oder handbeschriebene Papptafeln sind überflüssig. Mit Klappschildern neben der Bank signalisieren sie Autofahrern, wo die Reise hingehen soll. Mittlerweile gibt es vier Mitfahrbänke im Ort und sieben weitere in den umliegenden Dörfern. Sie stehen an öffentlichen Plätzen, damit das Warten angenehm ist und Fahrerin oder Fahrer wie Mitfahrerin oder Mitfahrer einander gut sehen können. So können die Menschen besser entscheiden, ob und zu wem sie ins Auto steigen.

Und die Idee macht Schule. In Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg können sich Dorf- und Kleinstadtbewohner bereits entspannt zurücklehnen und auf eine Mitfahrgelegenheit warten. Für Kommunen sind die Bänke mit nur geringen Investitionen verbunden. Und falls die Mitfahrbänke von den Bürgern nicht angenommen werden, stellt man sie einfach woanders auf. Bedarf an bequemen Sitzgelegenheiten besteht schließlich immer.

Damit das Prinzip funktioniert, reicht es natürlich nicht, in einem Dorf und in einer Ortschaft eine einzelne Bank aufzustellen. Schließlich wollen die Menschen aus der abgelegenen Ortschaft im nächsten Zentrum nicht nur zum Rathaus, sondern etwa auch zum Supermarkt, zum Arzt oder ins Krankenhaus – und von dort auch wieder zurück. Deshalb braucht es ein ganzes Netz an Mitfahrbänken, betont Expertin Herget. Dieser Gedanke beginnt sich auch bei den Kommunen und Initiativen immer stärker durchzusetzen. Im Umland von Flensburg werden in 34 beteiligten Gemeinden und in der Stadt selbst bis Mitte 2019 45 Mitfahrbänke aufgestellt.

Eine Frage des Vertrauens

Allerdings: Zu fremden Menschen ins Auto zu steigen oder Unbekannte mitzunehmen, das ist vielen immer noch nicht ganz geheuer. In einer Gemeinde im Hundsrück wurde ein Projekt gekippt, weil Anwohnende fürchteten, dass ihre Kinder zu Fremden ins Auto steigen. Und natürlich ist die Mitfahrbank „nicht als Massenverkehrsmittel gedacht“, so Ideengeberin Ursula Berrens gegenüber ZEIT ONLINE. Vielmehr sei sie „eine kleine Ergänzung, die eine Lücke schließt". Naturgemäß ist das Trampen im Sitzen ein Saisongeschäft besonders für die Sommermonate und zudem nicht für alle Mobilitätsbedürfnisse geeignet. Es richtet sich vor allem an Seniorinnen und Senioren oder Schülerinnen und Schüler, denen es auf dem Heimweg auf eine Viertelstunde mehr oder weniger nicht ankommt.

Berufspendler, die pünktlich zur Arbeit kommen müssen, wollen sich eher über Mitfahrportale wie Flinc per Smartphone zu spontanen Fahrgemeinschaften verbinden. Aber auch Kommunen tüfteln an digitalen Mitfahrplattformen. Im Odenwaldkreis wurde Ende 2016 eine Mitfahr-App gestartet. Sie hört auf den Namen „Husch“, soll den öffentlichen Nahverkehr ergänzen, Privatautos besser auslasten und die Umwelt schonen.

Damit solche Angebote erfolgreich sein können, müssen sie natürlich eine kritische Masse an Teilnehmern erreichen. Schließlich will man so spontan wie verlässlich einen Fahrer oder Mitfahrer finden können. Doch davon sind viele der Projekte noch weit entfernt. 280 Personen hatten sich bis Anfang 2018 bei Husch registriert – gehofft hatten die Macher auf 500 Mitglieder bis Ende 2017. Bei Flinc haben sich laut Website bislang immerhin schon 350.000 Nutzer registriert.

800 Autos auf 1.000 Einwohner

Das Potenzial ist auf jeden Fall groß. Auf 1.000 Einwohner kommen in einigen ländlichen Regionen rund 800 Autos, so Expertin Herget. Und die meiste Zeit sitzt eine Person allein im Fahrzeug. Die restlichen 200 Menschen ebenfalls an ihr Ziel zu bringen wäre also prinzipiell kein Problem. Um Fahrgemeinschaften zu fördern, haben Städte in den USA und in Kanada sogenannte Carpool Lanes eingerichtet. Diese Fahrstreifen dürfen nur von Autos mit mindestens zwei Insassen befahren werden, die dann auf den meist weniger stark befahrenen Spuren schneller voran und an ihr Ziel kommen können.

In Deutschland könnten etwa auch finanzielle Anreize Fahrer stärker dazu motivieren, mit anderen Menschen ihr Auto zu teilen, sagt Expertin Herget. Dazu müsste allerdings das Personenbeförderungsgesetz geändert werden. Bislang dürfen für Mitfahrten nur Anteile der Betriebskosten verlangt werden. Was hier als angemessen gilt, kann aktuell sogar innerhalb eines Bundeslands variieren. „Wenn man Mitfahren in Deutschland wieder stärker fördern möchte, sollte man deshalb darüber nachdenken, ob man nicht unter bestimmten Voraussetzungen eine Gewinnabsicht zulassen kann. Nämlich gerade in solchen Räumen, wo es gar kein Taxiunternehmen mehr gibt, das man gefährden könnte, und zu Zeiten, wo ohnehin kein Bus fährt“, so Herget.

Gerade spontane Mitfahrten an der Straße scheitern oft am mangelnden Vertrauen. Die App-gestützten Angebote versuchen diese Hürde durch bewertete Profile und Chatfunktionen zu überbrücken. So können sich die Nutzerinnen und Nutzer im Vorfeld ein Bild des potenziellen Fahrers oder Mitfahrers machen. Um Vorbehalte gegenüber dem Mitfahren abzubauen, kann es zugleich sinnvoll sein, auf bereits bestehende Vertrauensnetzwerke zu bauen, so Herget vom InnoZ: „Indem man etwa unter den Eltern einer Schule oder den Mitgliedern des Sport- oder Kulturvereins Mitfahrnetzwerke anregt. Und wenn man auf diese Weise mehrere ‚Vertrauensinseln‘ in einer Region etabliert hat, kann man diese in einer weiteren Phase untereinander öffnen, um so das Mitfahren wieder salonfähig zu machen“. Mehr Mitfahrkultur komme schließlich allen zugute – dem Verkehr, der Umwelt und der Mobilität von Landbewohnerinnen und -bewohnern jeden Alters.

ZUR PERSON

Melanie Herget ist Umwelt­wissen­schaftlerin und Expertin für Mobilität in ländlichen Räumen am Innovations­zentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) in Berlin.