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Mobilität

Eine kurze Geschichte des Fahrrads: Teil 2

12. September 2024

Ende des 19. Jahrhunderts ist das Fahrrad alltagstauglich geworden, wenn auch noch lange nicht ausentwickelt. Und schon in der kurzen Zeit seiner Existenz hat es wie jede wegweisende Erfindung die Gesellschaft maßgeblich verändert. Wie das Rad Mobilität demokratisiert, die Emanzipation anschiebt, zum Kultobjekt und zur Bergziege wird und schließlich auch ältere Generationen wieder beweglicher macht, davon erzählen wir im zweiten Teil unserer kurzen Geschichte des Fahrrads.

 

Der Sultan von Sansibar hat eins und auch der russische Zar. Der Emir von Kabul rüstet gar seinen ganzen Harem mit Fahrrädern aus: Ab den 1890er-Jahren wird der Drahtesel zum modischen Must-have an diversen Fürstenhäusern. Aber insbesondere auch die Mittel- und Arbeiterschicht entdeckt das immer erschwinglicher werdende Veloziped für sich. Schließlich braucht man mit ihm keine teuren Kutschen und Pferde, um zügig und aus eigener Kraft von A nach B zu kommen.

Vor allem Frauen fasziniert die neue und ungeahnte Bewegungsfreiheit, die das Fahrrad ihnen eröffnet. Sie lassen das atemraubende Korsett im Schrank, kürzen ihre bodenlangen und schwerfälligen viktorianischen Röcke. Oder tauschen sie gleich gegen praktische Kleidung wie Hosenröcke und Pluderhosen aus – für viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ein Skandal. Hitzige Debatten werden über pedalierende Frauen geführt: Das Fahrradfahren führe zu Geschwüren und Unfruchtbarkeit, unken manche Mediziner. Schlimmer noch: Sie könnten es als Mittel zur Masturbation benutzen, warnt 1896 Dr. Martin Mendelsohn in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“. Der Arzt Carl Fressel begrüßt dagegen „das Radfahren der Damen“, so der Titel seines Ratgebers, der 1897 erscheint und besonders die gesundheitsfördernde Wirkung des Fahrradfahrens betont.

 

Freiheitsvehikel Fahrrad

Schon ein Jahr zuvor sagt die US-amerikanische Frauenrechtlerin Susan B. Anthony der „New York Sunday World“, das Radfahren habe mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen als alles andere auf der Welt. „Ich freue mich jedes Mal, wenn ich eine Frau auf dem Fahrrad vorbeifahren sehe. Es gibt ihr ein Gefühl von Selbstvertrauen und Unabhängigkeit, sobald sie ihren Platz auf dem Sattel einnimmt – und schon geht es los. Es ist das Bild einer uneingeschränkten Weiblichkeit.“

Selbst im langen Rock kann frau bereits bequem in den Sattel steigen: John Kemp Starley, der Erfinder des modernen Fahrrads, hat 1889 mit dem „Ladies Rover“ das erste Rad mit tiefem Durchstieg auf den Markt gebracht. Neun Jahre später folgt das erste Damenmodell mit Freilaufnabe.

Ende des 19. Jahrhunderts übernehmen niederländische Fahrradbauer die englischen Konstruktionen und entwickeln sie zum Hollandrad weiter. Das erfreut sich bald über die Grenzen der Niederlande hinaus großer Beliebtheit. Und zwar bei allen Geschlechtern. Denn dank des Vollkettenschutzes können auch die Männer sicher sein, sich nicht die Hose an der Kette einzuschmieren.

 

Vom Bonanzarad zum BMX

Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte entwickeln sich unterschiedliche Radtypen für verschiedene Zielgruppen und Bedürfnislagen. Ab 1963 cruisen Kinder und Jugendliche auf dem „Schwinn Sting-Ray“ durch die Vorstädte der USA. Mit seinem hohen Hirschgeweihlenker, dem Schalthebel auf dem Oberrohr und seinem Bananensattel nebst Lehne sieht es aus wie ein geschrumpftes Chopper-Motorrad zum Treten. Ein paar Jahre später schwappt der Trend nach Europa und wird hierzulande als Bonanzarad populär. Dekoriert mit Wimpeln am Lenker und im Fahrtwind flatternden Fuchsschwänzen am Sattel wird es zum ganzen Stolz seiner jugendlichen Besitzerinnen und Besitzer.

In den USA liefern sich Jugendliche mit ihren Sting-Rays Rennen auf mit Sprungschanzen und Steilkurven gespickten Sandkursen. Da diese Räder aber nicht auf die harte Belastung ausgelegt sind, entwickelt man einen stabileren Rahmen. Der hohe Lenker und die kleinen Räder werden beibehalten: Es ist die Geburtsstunde des BMX-Rads, das sich ab den 1970er-Jahren zunächst in den USA ausbreitet. Spätestens mit Steven Spielbergs „E.T.“ von 1982, in dem sich die jugendliche Freundesgruppe auf ihren Rädern eine wilde Verfolgungsjagd mit der Polizei liefert, wird dann Europa von der BMX-Begeisterung erfasst. Über einige Jahre rangiert das BMX auch auf den Wunschzetteln von deutschen Kindern und Jugendlichen ganz weit oben.

 

Gut gedämpft über Stock und Stein

Das BMX-Rad macht das Fahrrad offroadtauglich. Doch mit seinen kleinen Rädern und der fehlenden Gangschaltung ist es für längere Fahrten über Stock und Stein kaum geeignet. Genau das haben die Radrennfahrer und Rahmenbauer Gary Fisher und Joe Breeze im Sinn: Ab 1973 beginnen sie, sich auf umgebauten Schwinn-Fahrrädern die steilen Schotterpisten des Mount Tamalpais in Kalifornien herunterzustürzen. Später gesellen sich Tom Ritchey und Charles Kelly dazu. Aus der wilden Abfahrerei entwickeln sich sogenannte Repack-Rennen. Die Offroad-Enthusiasten tüfteln an den Rädern und der Rahmengeometrie, um sie immer besser auf steile Anstiege und Abfahrten durch raues Gelände anzupassen: breite Reifen mit grobem Profil, ein stabiler Motorradlenker mit praktischer Daumenschaltung, ein drittes kleines Kettenblatt vorne, um auch besonders steile Hügel hinauftreten zu können – ein Rad für die Berge eben. 1981 wird mit dem „Specialized Stumpjumper“ das erste Mountainbike in Großserie produziert. Bald wird der Stahlrahmen durch das leichtere Aluminium ersetzt und das Oberrohr abfallend konstruiert, um weiteres Gewicht einzusparen und die Bewegungsfreiheit auf dem Rad zu erhöhen. Federgabeln und Dämpfer im Rahmen erlauben außerdem längere erschütterungsärmere Fahrten über unwegsames Gelände.

Das robuste Mountainbike macht sich auf seinen Siegeszug um die Welt und bald auch im Flachland und offroadarmen Städten breit. Ab Anfang der 1990er-Jahre ebenfalls in Form seines gemütlicheren und StVZO-konformen Verwandten: dem Trekkingrad mit Schutzblechen, Licht und Gepäckträger. In diesen Jahren nimmt zudem eine alte Idee unter neuen technischen Vorzeichen wieder Fahrt auf.

 

Alte Idee, neu elektrisiert

Die Elektrisierung Ende des 19. Jahrhunderts hatte selbst vor dem Fahrrad nicht haltgemacht. Bereits vor der Jahrhundertwende wurden erste Patente für Elektrofahrräder angemeldet. Zur Serienproduktion reicht es jedoch vorerst nicht. Ab 1932 baut dann die Phillips-Tochter EMI ein erstes Elektrofahrrad in Kleinserie. Eine ausgeklügelte Leistungselektronik hat das „Simplex“ allerdings noch nicht – und seine klobigen Batterien bringen es nicht sonderlich weit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erleben Fahrräder mit Hilfsmotor eine kurze Blüte. Betrieben werden sie aber mit Sprit statt mit Strom und werden bald von leistungsfähigeren Mofas und Mopeds abgehängt. An elektrischen Rädern wird in den nächsten Jahrzehnten zwar weiter getüftelt. Doch über das Prototypstadium kommen die schweren und teuren und wenig alltagstauglichen Gefährte selten hinaus.

 

Das Pedelec-Prinzip

Den Grundstein für das Pedelec-Prinzip legt Egon Gelhard. 1982 präsentiert der Erfinder aus Zülpich mit dem Gelhard-Bike eine erste praktische Studie, bei der die Motorunterstützung abhängig von der Tretleistung ist: Je schneller man tritt, desto mehr hilft der Motor. Hält man die Füße still, hält sich der Motor raus. Aufgegriffen und eingesetzt wird dieses Prinzip allerdings erst 1990 von der Schweizer Firma Velocity.

Drei Jahre später, 1993, bringt Yamaha mit dem „Yamaha PAS“ ein erstes eigenes Pedelec-System auf den Markt. Bald springen auch andere Hersteller auf den E-Bike-Zug auf. Damit dieser weltweit an Fahrt aufnehmen kann, braucht es aber zunächst noch einige Jahre und einen entscheidenden Baustein: die Lithium-Ionen-Batterie. Der leichte und leistungsfähige Akku wird ab 2005 in E-Bikes verbaut und schnell zum Standard.

 

Heute sind hierzulande elf Millionen E-Bikes im Einsatz – ihre Zahl hat sich damit innerhalb von zehn Jahren fast versiebenfacht. 2023 wurden in Deutschland erstmals mehr E-Bikes als reine Muskelkrafträder verkauft. Und die ursprünglich so klobig-plumpen Stromfahrräder werden immer schlanker und schicker und lassen so ihr Rentnerimage mehr und mehr hinter sich. Entsprechend wird auch die Kundschaft immer jünger. Lag der Altersschnitt 2017 noch bei 57 Jahren, waren es 2022 nur noch 50 Jahre. Laut einer Studie von 2020 waren die 30- bis 39-Jährigen die größte Gruppe unter den E-Bike-Käuferinnen und -Käufern, sehr dicht gefolgt von den 50- bis 59-Jährigen.

Unter den Allerjüngsten feiert derweil Karl von Drais’ ursprüngliche Erfindung ein beachtliches Comeback: Mit Laufrädern üben heute schon Einjährige ihren Gleichgewichtssinn. Und können so viel nahtloser und sturzärmer aufs Fahrrad wechseln als noch ihre Eltern auf Stützrädern. In der individuellen Entwicklung der einzelnen Radlerinnen und Radler ist es also wie mit der Evolution des Fahrrads: Am Anfang kommt die Laufmaschine, danach wird dann in die Pedale getreten.

Hier geht es zum ersten Teil unserer kurzen Geschichte des Fahrrads.

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore