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Steckbrief

David Bermbach: Der Datensammler von Beinahe-Unfällen

18. Februar 2021

Abbiegende Lkw, zugeparkte Radwege, dicht überholende Autos: Wer mit dem Rad in der Stadt unterwegs ist, gerät oft in gefährliche Situationen. Eine Erfahrung, die auch David Bermbach immer wieder auf seinem täglichen Arbeitsweg zum Einstein Center Digital Future im Berliner Bezirk Mitte macht. Um das Risiko für Unfälle künftig zu verringern, entwickelte der IT-Professor daher die SimRa-App. Sie erkennt Beinahe-Unfälle von Radfahrenden und hilft so dabei, Gefahrenstellen zu identifizieren, die Verkehrsbehörden dann durch Gegenmaßnahmen entschärfen können.

Name: David Bermbach

Alter: 36

Beruf: Professor

Websites:
www.mcc.tu-berlin.de/menue/team/prof_dr_ing_david_bermbach/
www.digital-future.berlin/forschung/projekte/simra

Was ist SimRa?

SimRa ist das Akronym für „Sicherheit im Radverkehr“ und ist der Name eines Citizen-Science-Projekts in meinem Fachgebiet. In SimRa versuchen wir einen Überblick zu bekommen, wo und warum es in Städten für Radfahrer gehäuft zu gefährlichen Situationen kommt – zu sogenannten Beinahe-Unfällen.

Wie ist die Idee entstanden?

Die Projektidee ist ganz persönlich dadurch motiviert, dass ich in Berlin als Radfahrer immer wieder sehr gefährliche Situationen erlebe. So war es auch an einem Tag im Frühjahr 2018: Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit und erlebte eine dieser typischen, immer wieder tödlichen Rechtsabbiegersituationen, wo mir der Autofahrer die Vorfahrt nahm. Zum Glück konnte ich der Kollision gerade noch ausweichen. Als ich entsprechend aufgewühlt im Büro ankam, fand ich in meinem E-Mail-Posteingang einen Aufruf zur Einreichung von Anträgen für Citizen-Science-Projekte. Ich habe dann mit einem meiner Doktoranden überlegt, ob man da nicht etwas machen könnte, und so ist die Projektidee entstanden.

Wie kann die SimRa-App Beinahe-Unfälle erkennen?

Die App nutzt die Beschleunigungssensoren im Handy. Stark vereinfacht kann man sagen, dass die meisten Arten von Beinahe-Unfällen zu plötzlichen Beschleunigungsänderungen führen, zum Beispiel durch Ausweichen oder Abbremsen. Diese Situationen versuchen wir in den Sensordaten zu erkennen. Ursprünglich haben wir hierfür eine ganz einfache Heuristik  genutzt, das heißt eine grobe Näherungsanalyse, stellen aber jetzt gerade auf Machine Learning um, mit dem man deutlich bessere Trefferquoten hat. Im Anschluss an die Fahrt wird dann der jeweilige Nutzer gebeten, die von uns vorerkannten Beinahe-Unfälle zu beschreiben oder gegebenenfalls zu ergänzen.

Wie können diese Daten dabei helfen, die Situation von Radfahrenden in der Stadt konkret zu verbessern?

Mit diesen Daten bekommt man erstmals einen Überblick darüber, wo und warum es zu gefährlichen Situationen kommt, was eine wichtige Planungsgrundlage für die zuständige Verkehrsverwaltung sein kann. Auch veröffentlichen wir alle Daten als Open Data, damit andere sie weiternutzen können. Zum Beispiel, um bei der Routenplanung die Gefährlichkeit eines Straßenabschnitts zu berücksichtigen oder Radfahrende während der Fahrt vor Gefahrenschwerpunkten zu warnen.

Erste Ergebnisse für Berlin haben Sie bereits veröffentlicht. Was sind die zentralen Erkenntnisse?

Die Haupterkenntnis ist sicherlich, dass es nicht nur zwei bis drei herausragend gefährliche Orte gibt, sondern dass wir Gefahrenschwerpunkte in der Breite erkennen können. Außerdem sieht man, dass bestimmte Arten von Straßenbauweisen immer wieder positiv oder negativ auffallen. Zum Beispiel haben wir an Abschnitten mit vernünftiger Fahrradinfrastruktur sehr viele Fahrten, aber kaum Beinahe-Unfälle. Das kann sich aber auch jeder selbst auf unserer Ergebniswebsite anschauen: https://simra-project.github.io/.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Maßnahmen, um Radfahren sicherer und damit auch attraktiver zu machen?

Wenn ich mir anschaue, wie viele Beinahe-Unfälle dadurch entstehen, dass Autofahrer drängeln und darauf lauern, sich vorbeiquetschen zu können (dann meist auch noch mit zu dichtem Überholen), dann wäre mit einem innerstädtischen Tempolimit von 30 Stundenkilometern schon sehr viel gewonnen. Und während ich mich als männlicher Mittdreißiger mit einigen Dingen arrangieren kann, sieht das für schwächere Verkehrsteilnehmende völlig anders aus. Insofern ist es wahnsinnig wichtig, dass die Planung der Radinfrastruktur beispielsweise auf die Bedürfnisse von Kindern und Senioren zugeschnitten ist. Schlussendlich brauchen wir einen Mentalitätswandel, sodass Verkehrsdelikte nicht mehr als Kavaliersdelikte betrachtet werden. Das heißt, dass Polizei und Ordnungsämter Verkehrsregeln konsequent durchsetzen und die Autofahrer umdenken müssen. Es wird mir für immer ein Rätsel bleiben, warum Menschen, die etwa nie einen Ladendiebstahl begehen würden, plötzlich glauben, dass Parken im Halteverbot oder zu dichtes Überholen in Ordnung sind, obwohl sie dadurch andere Menschen konkret gefährden.

Wie hat sich SimRa seit dem Start 2018 entwickelt, und wie soll es weitergehen?

Nach einigen Monaten Betatest- und Entwicklungsphase mit unseren „Citizens“ sind wir im März 2019 mit der App live gegangen und bekommen seither stetig mehr Fahrten in Berlin. Dabei sind wir auf ganz viel Interesse auch aus anderen Städten gestoßen, sodass wir mittlerweile 13 Ableger-Regionen haben, in denen man SimRa auch nutzen kann. Als Nächstes wollen wir ganz Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz abdecken – wenn wir einen Ansprechpartner für eine Region gefunden haben, geht das ganz schnell. Ansonsten arbeiten wir derzeit vor allem daran, die Nutzbarkeit der App zu verbessern und weitere Datenanalysen zu implementieren.

Welches digitale Produkt muss erst noch erfunden werden?

Die Welt wird ja immer stressiger und komplexer, und das Leben wird nicht gerade leichter, wenn sich To-dos und Kommunikation über viele verschiedene Tools verteilen. Insofern würde ich mir da etwas wünschen, was alle diese Informationen und To-dos intelligent sammelt und verwaltet. Allerdings hat genau der Versuch, so etwas zu erstellen, dazu geführt, dass wir diese Vielzahl an Tools haben. :-)

Auf welches könnten Sie verzichten?

Wenn ich muss, sicherlich auf alle. Ansonsten bin ich da ohnehin eher minimalistisch. Wir haben beispielsweise letztens festgestellt, dass meine Doktoranden alle deutlich mehr Apps installiert haben als ich – teilweise viermal mehr.

Hätten Sie gerne einen Haushaltsroboter?

Eigentlich nur, wenn der mir meinen Papierkram abnehmen kann.

Welche technische Anwendung wird Ihnen immer ein Rätsel bleiben?

Warum Leute mit dem Auto ins Fitnessstudio fahren.

Wann waren Sie das letzte Mal 24 Stunden offline?

Das muss vor zwei bis drei Jahren gewesen sein.

Urlaub ohne WLAN: Traum oder Albtraum?

Weder noch: Mit ist ganz nett, aber es geht auch ohne. Überhaupt mal wieder länger Urlaub wäre schön …

 

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