Erneuerbare Energien
Wie unser Energiesystem beweglicher werden kann.

27. November 2025
Fast 60 Prozent des Stroms in Deutschland wurden im Jahr 2024 aus Wind, Sonne und Wasser gewonnen – ein neuer Rekord. Bis 2030 soll der Anteil der Erneuerbaren auf 80 Prozent steigen. Da Sonne und Wind mal stärker und mal schwächer scheinen oder wehen, muss auch das Energiesystem beweglicher werden. Grüne Flexibilität ist das Stichwort. Was man darunter versteht und was sie umfasst, erklärt Ilona Dickschas, Expertin für Sektorkopplung und Batteriespeicher bei TÜV NORD.
#explore: Frau Dickschas, was versteht man unter grüner Flexibilität?
Ilona Dickschas: Mit dem Zuwachs der erneuerbaren Energien nehmen auch die Schwankungen im Stromsystem zu: Mal gibt es ein Überangebot, dann müssen Solar- oder Windkraftanlagen abgeregelt werden. Mal entsteht Knappheit, die etwa durch Gaskraftwerke, Pumpspeicherkraftwerke oder Batteriespeicher überbrückt werden muss. Grüne Flexibilität steht für die Möglichkeit, Erzeugung und Verbrauch aktiv und vorausschauend aufeinander abzustimmen, zum Beispiel durch steuerbare Verbrauchsgeräte, Speichertechnologien oder Power-to-X-Lösungen – also Systeme, um überschüssigen Strom etwa in grünen Wasserstoff oder in Wärme umzuwandeln. Das macht grüne Flexibilität zu einem zentralen Baustein der Energiewende.
Was sind die Säulen eines solchen flexiblen Energiesystems?
Ein wichtiger Aspekt ist das sogenannte Demand-Response-Management. Dabei geht es darum, dass insbesondere große Industrieanlagen ihre energieintensiven Prozesse gezielt in Zeiten verlegen, wenn es ein großes Angebot an Wind- oder Sonnenstrom gibt. Um ihren Energiebedarf anteilig zu decken, können Unternehmen auch eigene Strom- oder Wärmespeicher betreiben, was einige bereits tun. Wird die eigene Fahrzeugflotte elektrifiziert, ist es sinnvoll, die Ladevorgänge über ein dynamisches Lastmanagement zu steuern und in die Zeiten hoher Stromverfügbarkeit zu verlagern. So werden zugleich Überlastungen des lokalen Stromnetzes vermieden. All diese Maßnahmen erfordern eine intelligente Vernetzung der einzelnen Systeme, deren Echtzeitfähigkeit immer wichtiger wird, um innerhalb von Sekunden auf Schwankungen im Stromnetz reagieren zu können.
Entscheidend für diese Echtzeitfähigkeit sind intelligente Stromzähler, die sogenannten Smart Meter. Doch der Roll-out kommt in Deutschland nur schleppend voran. Woran liegt das?
Das hat unterschiedlichste Gründe: vom Fachkräftemangel bis hin zur Überlastung der Netzbetreibenden, die für den Einbau zuständig sind. Letztlich hat man wohl auch den starken Zuwachs der Erneuerbaren in der vergangenen Dekade unterschätzt. Allerdings sind andere Länder wie Schweden, Frankreich und Spanien beim Smart-Meter-Roll-out bereits wesentlich weiter. Wir müssen hier unsererseits Tempo machen, um den Schlüsselfaktor grüne Flexibilität in die Breite zu bringen.
Mit welchen strukturellen Maßnahmen kann man die nötige Flexibilität gezielt fördern?
Diskutiert wird zum Beispiel die Einführung eines sogenannten Kapazitätsmarkts, wie er in Großbritannien bereits etabliert ist und von der Ampelregierung angedacht wurde. In Deutschland verdienen die Kraftwerks- und Speicherbetreibenden bislang Geld mit dem Handel von Strom an der Börse und mit der Erbringung von Regelleistungen, um das Netz zu stabilisieren. Bei einem Kapazitätsmarkt werden sie außerdem dafür entlohnt, dass sie Kraftwerks- beziehungsweise Speicherkapazitäten vorhalten, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dieses System hat Großbritannien zum europäischen Vorreiter bei Batteriespeichern gemacht. Ein solcher Kapazitätsmarkt könnte auch Anreize für Investitionen in Wasserstofferzeugung und -speicherung schaffen. Anders als Batteriespeicher lassen sich Wasserstoffspeicher heute noch nicht wirtschaftlich betreiben, werden aber als Langzeitspeicher benötigt, um Dunkelflauten zu überbrücken.

Welche Rolle spielen die Fachleute von TÜV NORD beim Aufbau dieses flexiblen Systems?
Wir können mithilfe von Simulationen zum Beispiel für ein Industrieunternehmen verschiedene Szenarien für die Integration eines Batteriespeichers analysieren. Auf diese Weise können das Betriebsverhalten, die Netzinteraktion und die Wirtschaftlichkeit der Anlage bewertet und Optimierungspotenziale frühzeitig erkannt werden. Geht es an den Netzanschluss, prüfen wir, ob die Speicher sicher und regelkonform ans Stromnetz angebunden werden können – das Ergebnis ist hier ein projektspezifisches Anlagenzertifikat. Unsere Fachleute zertifizieren aber auch die sogenannten EZA-Regler. Dieses Gerät gewährleistet die Kommunikation zwischen der Anlage, etwa dem Batteriespeicher, und dem Netzbetreiber. Es gibt beispielsweise dem Speicher das Signal: Die Frequenz im Netz fällt ab, du musst Strom ins Netz einspeisen. Im Rahmen der Zertifizierung wird diese kleine, aber elementare Systemkomponente von uns darauf geprüft, ob sie die Anforderungen erfüllt – das Ergebnis ist hier ein typspezifisches Komponentenzertifikat.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Akteurinnen und Akteure im Energiesystem?
Eine zentrale Herausforderung ist die Vorbereitung auf neue Verordnungen und Regularien. So wurde beispielsweise Anfang Oktober die neue EU-Batterieverordnung in deutsches Recht überführt. Diese legt unter anderem strengere Richtlinien zum Recycling fest und macht einen digitalen Batteriepass zur Pflicht, in dem die Herstellenden den Standort der Produktionsstätte und den CO2-Fußabdruck der Batterie angeben müssen. Sich auf diese und andere neue Regularien einzustellen erfordert einen hohen Aufwand. Unsere Fachleute sind in allen relevanten Normierungsgremien vertreten. Entsprechend können wir umfassend über anstehende Änderungen informieren und Unternehmen auch bei der Umsetzung neuer Richtlinien unterstützen. Das gilt außerdem für die Konzeption von Recyclingkonzepten, über die sich die Betreibenden bereits vor der Inbetriebnahme Gedanken machen sollten.

Mit dem Blick in die Glaskugel: Wie sieht das flexible Energiesystem der Zukunft aus, bei dem alle Elemente intelligent ineinandergreifen?
Im Kleinen gibt es ein solches System bereits heute: Beispielsweise das Stadtwerk Haßfurt deckt den gesamten Strombedarf der Bürgerinnen und Bürger der unterfränkischen Kreisstadt mit Solaranlagen, einem Bürgerwindpark und einer Biogasanlage. Überschüssiger Strom wird in Batterien gespeichert oder in grünen Wasserstoff umgewandelt, der wiederum in einem Blockheizkraftwerk genutzt wird. Da der Smart-Meter-Roll-out in Haßfurt schon abgeschlossen ist, können Verbrauchende den Betrieb ihrer Wärmepumpe oder das Laden ihres E-Autos in die Zeiten eines hohen Angebots verlegen und so von günstigen Strompreisen profitieren. Das flexible Energiesystem der Zukunft können wir uns als intelligenten Verbund vieler solcher dezentralen Systeme vorstellen, die sich wechselseitig optimieren und stützen.

Ilona Dickschas ist Leiterin Sektorkopplung und Expertin für Batteriespeicher bei TÜV NORD EnSys. Sie beschäftigt sich seit rund 15 Jahren mit erneuerbaren Energien, Elektromobilität, Batteriespeichern und Wasserstoff.
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