Assistenzsysteme
Wie Automotive-Health-Systeme Autofahren gesünder und sicherer machen sollen.

23. Oktober 2025
Die Bundesregierung will bis 2030 die Zahl der Verkehrstoten um 40 Prozent senken, zugleich sollen deutlich weniger Menschen bei Unfällen schwer verletzt werden. Auf dem Weg zu „Vision Zero“ könnten neben Notbremsassistenten, Fußgängererkennung und einer sichereren Radinfrastruktur auch neue Gesundheitsassistenten helfen, wie sie von Forschenden entwickelt und an der Charité in Berlin erprobt werden. Welche dieser Systeme aus Sicht von Fachleuten aus Medizin, Autoindustrie und von TÜV NORD Mobilität besonders viel Potenzial bieten, hat eine aktuelle Studie des Innovationen Instituts herausgearbeitet.
43 Minuten verbringen wir im Schnitt pro Tag hinter dem Steuer eines Autos. Zeit, die sich sinnvoll für Gesundheitsvorsorge nutzen ließe, findet Thomas Deserno, Leiter des Instituts für Medizinische Informatik (PLRI): „Die Integration einer kontinuierlichen Gesundheitsüberwachung birgt großes Potenzial, Krankheiten früher zu erkennen.“ Automotive Health nennt sich das Prinzip, an dem neben Forschungsinstituten wie dem PLRI auch diverse Autobauer arbeiten. Das Ziel: Unfälle zu verhindern, die Gesundheit der Fahrenden zu verbessern und dafür zu sorgen, dass sie bestenfalls entspannter ankommen, als sie eingestiegen sind.
Wie das aussehen kann, haben die Forschenden vom PLRI im November 2024 auf der Medizintechnikmesse „Medica“ in Düsseldorf präsentiert: Was von außen wie ein normaler VW ID.4 wirkte, steckte im Innenraum voller Technik, um die Vitalparameter der Fahrenden umfänglich zu erfassen und die Symptome von Schlaganfällen und Herzinfarkten so frühzeitig zu erkennen.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind hierzulande die häufigste Todesursache und können auch für andere Verkehrsteilnehmende fatale Folgen haben. Erst im Januar dieses Jahres waren bei einem Verkehrsunfall in Düsseldorf drei Tote und zwei Schwerverletzte zu beklagen. Kein Einzelfall: Etwa ein Prozent der Pkw-Unfälle in Deutschland steht laut der GDV-Unfalldatenbank der Versicherer im Zusammenhang mit gesundheitlichen Problemen. Der Anteil bei den tödlichen Unfällen liegt bei etwa vier Prozent. Ein Problem, dem Medizininformatiker Thomas Deserno und sein Team mit dem Herz-Kreislauf-Assistenten begegnen, den sie in ihrem „Smart Car“ verbaut haben: Über das Lenkrad wird ein EKG aufgezeichnet, über den Sicherheitsgurt werden die Herztöne erfasst, der Autositz misst die Körpertemperatur, eine Innenraumkamera filmt das Gesicht des Fahrenden und berechnet so die Atemfrequenz. All diese Daten werden gesammelt und von einem neuronalen Netz analysiert.
Anomalien wie häufigeres oder längeres Vorhofflimmern sollen so frühzeitig erkannt und Schlaganfälle oder Herzinfarkte durch rechtzeitige Warnung verhindert werden. Für über 60 Prozent der insgesamt 74 Fachleute aus Medizin, Automobilindustrie und von TÜV NORD Mobilität, die das Innovationen Institut zu Automotive-Health-Konzepten befragt hat, sind Herz-Kreislauf-Assistenten daher die sinnvollste neue Fahrzeugfunktion für die Vermeidung von Unfällen. Für 41 Prozent wäre er auch zusätzliche Kosten beim Fahrzeugkauf wert.
Für zahlreiche Vielfahrende sind ihre Autos ein rollendes Wohnzimmer. Doch selbst wenn unsere Automobile im Laufe der letzten Jahrzehnte geräumiger geworden sind, fallen sie immer noch deutlich kleiner aus als die heimische Stube. Und fassen daher entsprechend weniger Luft. Insbesondere wenn der Wagen etwa beim Wochenendausflug oder der Urlaubsreise voll besetzt ist, sinkt der Sauerstoffgehalt der Luft im Innenraum schnell – und damit auch der Sauerstoffgehalt im Blut der Insassinnen und Insassen. Das führt zu Müdigkeit und Konzentrationsmangel. Das Unfallrisiko wächst.
Bei einem der angedachten Gesundheitsassistenten überprüft ein Messgerät am Lenkrad oder eine Smartwatch die Sauerstoffkonzentration in der Innenraumluft. Ist sie zu niedrig, wird entsprechend reagiert: durch einen Hinweis an die fahrende Person oder eine Änderung der Klimatisierungseinstellung. Das erhöht die Wachsamkeit der Fahrenden, was aus Sicht von über 50 Prozent der befragten Fachleute das Unfallrisiko reduzieren könnte.
Wie gut wir uns konzentrieren und was wir körperlich leisten können, daran hat auch der Blutzuckerspiegel einen maßgeblichen Anteil. Geht er in den Keller, kann das bei Menschen mit Diabetes zu Schwindel, Verwirrtheit und im schlimmsten Fall zur Bewusstlosigkeit führen. Um ihren Blutzuckerspiegel zu überwachen, nutzen die meisten Diabetikerinnen und Diabetiker einen Tropfen Blut aus der Fingerspitze und ein Messgerät. Auf der Autofahrt heißt das: Raststätte ansteuern, pieksen, testen – erst dann kann die Fahrt fortgesetzt werden. Eine angenehmere Alternative zum Fingerstich sind spezielle Sensoren, die ins Unterhautfettgewebe eingesetzt werden. Speist man die gemessenen Werte in den Bordcomputer, kann der Blutzuckerspiegel im Fahrzeugdisplay eingeblendet werden. So hat man ihn immer und besser im Blick als etwa auf der Smartwatch. Menschen mit Diabetes können so Pausen und Nahrungsaufnahme gut planen und ihren Blutzuckerspiegel auch bei längeren Fahrten im grünen Bereich halten, was knapp 48 Prozent der Studienteilnehmenden als hilfreich bewerten.
Autofahren ist unausweichlich eine sitzende Tätigkeit. Und allzu oft sitzen wir dabei nicht optimal. Das belastet Wirbelsäule und Rücken und kann insbesondere bei längeren Fahrten zu akuten Schmerzen führen. Gestützt etwa auf Sensoren im Sitz, könnte der Bordcomputer Hinweise zu Haltungsfehlern geben und alternative Sitzpositionen vorschlagen. Aktive Sitze greifen dem Fahrenden sogar direkt unter die Arme, geben taktiles Feedback und unterstützen so eine bessere Haltung oder passen diese nach einer gewissen Fahrzeit automatisch an. Das beugt Haltungsschäden und Rückenschmerzen vor. Bei vorhandenen Erkrankungen wie einem Bandscheibenvorfall könnten die Haltungsassistenten schon beim Einstieg ins Auto eine optimale Sitzkonfiguration einstellen. Für über 60 Prozent der befragten Fachleute wären diese Assistenten daher höhere Fahrzeugkosten wert.
In einer nächsten Stufe könnten die Daten der unterschiedlichen Gesundheitsassistenten dann mittels KI-gestützter Systeme gebündelt und ausgewertet werden, um eine Echtzeitanalyse der körperlichen Verfassung des Fahrenden zu generieren und personalisierte Gesundheitsempfehlungen zu geben. Akute Notfälle könnten so erkannt und langfristigen körperlichen wie psychischen Folgen von Fahrstress entgegengewirkt werden.
„Die Kombination von Datenanalyse und künstlicher Intelligenz birgt enormes Potenzial, um sowohl die Sicherheit im Verkehr als auch das Wohlbefinden der Insassinnen und Insassen zu steigern“, sagt Leif-Erik Schulte, Leiter des Instituts für Fahrzeugtechnik und Mobilität (IFM) von TÜV NORD. „Um diese Vision umzusetzen, müssten Forschung und Industrie allerdings noch enger zusammenarbeiten und gleichzeitig höchste Datenschutzstandards gewährleisten“, betont der Experte für Fahrzeugsicherheit. Außerdem bedürfe es umfangreicher Tests und Validierungen, um die Zuverlässigkeit und die Sicherheit der unterschiedlichen Gesundheitsassistenten zu gewährleisten.
Den Anfang macht hier eine Studie von BMW und der Charité Berlin, die im Juni 2025 gestartet ist. Mit 120 Probandinnen und Probanden ab 50 Jahren wird hier ein Herz-Kreislauf-Assistent erprobt. Ein Teil von ihnen ist gesund, der andere leidet an verschiedenen Krankheiten wie Herzrhythmusstörungen.
Noch ist die Studie in einer sehr frühen Phase. Erste Ergebnisse werden Ende des Jahres erwartet. Fallen sie vielversprechend aus, könnte auch das langfristige Ziel der Kooperationspartner in den Bereich des Möglichen rücken: eine Reaktionskette in Fahrzeuge einzubauen, die bei einem akuten Notfall nicht nur eine Notbremsung einlegt, sondern auch die Rettungskräfte informiert und die erfassten Gesundheitsdaten gleich mitsendet – damit die Helfenden vor Ort sofort die nötigen Maßnahmen einleiten können.
Dies ist ein Artikel von #explore. #explore ist eine digitale Entdeckungsreise in eine Welt, die sich in rasantem Tempo wandelt. Die zunehmende Vernetzung, innovative Technologien und die alles umfassende Digitalisierung schaffen Neues und stellen Gewohntes auf den Kopf. Doch das birgt auch Gefahren und Risiken: #explore zeigt einen sicheren Weg durch die vernetzte Welt.