Elektrotechnik
Um Stromunfälle zu vermeiden, müssen Unternehmen das Sicherheitsbewusstsein ihrer Mitarbeitenden stärken.
Zum Blog Wissen kompaktStromunfälle kommen nicht nur häufig unter Laien vor, sondern auch oft unter Elektrofachkräften und elektrotechnisch unterwiesenen Personen. Laut einer Statistik der gesetzlichen Unfallversicherung BG ETEM von 2021 verursachten letztere beide Gruppen 49,2 Prozent der Stromunfälle. Dabei waren Fachkräfte mit einer Berufserfahrung unter 5 Jahren für 32,7 Prozent dieser Unfälle verantwortlich, während Fachkräfte mit über 20 Jahren Erfahrung 19,6 Prozent der Stromunfälle herbeiführten.
Wir haben uns mit Thomas Engl, Dozent für Elektro- und Informationstechnik, über folgende Themen unterhalten:
Schon allein, weil sie tagtäglich elektrotechnische Arbeiten ausführen, sind Elektrofachkräfte und elektrotechnisch unterwiesene Personen einem größeren Risiko für Stromunfälle ausgesetzt. Thomas Engl erkennt aber ein zusätzliches Problem in einer unzureichenden Ausbildung des Nachwuchses. „Vor allem Elektrofachkräfte für festgelegte Tätigkeiten und elektrotechnisch unterwiesene Person sind häufig gefährdeter, weil sie teilweise nur schnell ein wenig Elektrotechnik in wenigen Tagen bzw. einem Tag beigebracht bekommen. Anschließend gehen sie in dem Glauben hinaus, sich gut auszukennen.“ Auf diese Weise entstehe eine Art Dunning-Kruger-Effekt. Insgesamt fehle es jedoch häufig an ausreichendem Hintergrundwissen, sodass diese Personen in Situationen geraten, für die sie nicht richtig ausgebildet und unterwiesen seien.
Aber selbst erfahrene Spezialist:innen sind vor Stromunfällen nicht gefeit, wie Thomas Engl anmerkt. „Bei diesen Fachkräften ist die Routine der größte Feind. Wenn sie unvorsichtig arbeiten, sich selbst überschätzen oder ihre Arbeit zu schnell durchführen wollen, ist ein Unfall ebenfalls schnell passiert.“ Hierbei handelt es sich jedoch um kein neues Problem, wie der Experte aus eigener Erfahrung weiß: „Ich habe selbst in einem kleinen Handwerksbetrieb gelernt und nach der Ausbildung auch noch einige Jahre als Geselle gearbeitet. Da spielten Sicherheitsregeln keine große Rolle.“
Ernsthafte Verletzungen oder Unfälle mit Todesfolge würden aber eher selten vorkommen – ein Segen, der aber auch Nachteile mit sich bringt, wie Thomas Engl erklärt. „Für die Sensibilisierung ist es eher schlecht, dass so wenig passiert; für die Gesundheit der jeweiligen Personen natürlich sehr gut. Wenn man jedoch eine Gruppe von Fachkräften oder einfach ein paar Leute auf der Straße ansprechen würde, kennen die wenigsten jemanden, die oder der bei einem Stromunfall gestorben ist. Wenn ich dagegen frage, wer schon einmal einen Stromschlag bekommen hat, heben sicherlich die meisten die Hände.“ Die Fachkräfte scheinen sich der Verletzungsgefahr bewusst zu sein, aus der Sicht des Experten betrachten zu viele von ihnen die Risiken nicht mit dem angemessenen Ernst. „Wer schon mehrmals einen Stromschlag ohne ernsthafte Konsequenzen erlebt hat, hält diese Warnungen meist für maßlos übertrieben.“
Abhilfe sollen unter anderem eine übersichtliche Aufstellung der 5 Sicherheitsregeln der Elektrotechnik schaffen, die einen weit zurückliegenden historischen Ursprung haben, aber auch heute noch eine wichtige Bedeutung in Fachkreisen besitzen, wie Thomas Engl erläutert: „Die DIN VDE 0105-100, in der die fünf Sicherheitsregeln stehen, wurde erstmals 1903 veröffentlicht. Soweit mir bekannt ist, enthielt die Erstausgabe bereits die Regel, dass nur an freigeschalteten Anlagen gearbeitet werden darf.“ Diese Sicherheitsgrundlage eignet sich für jedes elektrotechnische Unternehmen, entwickelt sich aber stets weiter und lässt sich individuellen betrieblichen Umständen anpassen.
Alle Leitungen, die Spannung an eine Arbeitsstätte heranführen, müssen vor Beginn der Arbeiten abgeschaltet werden. Hat die arbeitende Person nicht selbst freigeschaltet oder sind mehrere Personen gemeinsam tätig, muss die schriftliche oder mündliche Bestätigung der Freischaltung abgewartet werden.
Alle Trenn- und Bestätigungsvorrichtungen, die Spannung an die Arbeitsstelle bringen können, sind vor Beginn der Arbeiten gegen Wiedereinschalten, beispielsweise durch Abschließen mit einem Vorhängeschloss, zu sichern. Gleichzeitig ist ein Verbotsschild, das auf die Arbeiten hinweist, zuverlässig anzubringen.
Feststellen bedeutet, sicherstellen! Sollte noch Spannung anstehen, ist wieder mit der ersten Sicherheitsregel zu beginnen. Untersuchungen haben eindeutig ergeben, dass sich die meisten schweren Unfälle nicht ereignet hätten, wenn vorher festgestellt worden wäre, ob die Arbeitsstelle spannungsfrei ist. Bei Anlagen mit Nennspannungen bis 1.000 Volt wird an jedem einzelnen Leiter der Arbeitsstelle allpolig die Spannungsfreiheit festgestellt. Dazu ist ein geeignetes Prüfgerät erforderlich – vorzugsweise ein zweipoliger Spannungsprüfer, dessen Funktionstüchtigkeit vorher geprüft wurde.
Die zum Erden und Kurzschließen verwendete Vorrichtung ist stets zuerst mit der Erdungsanlage oder einem Erder und erst dann mit dem zu erdenden Anlagenteil zu verbinden, wenn nicht Erdung und Kurzschließung gleichzeitig durchgeführt werden. Bei Arbeiten an Anlagen und Nennspannungen bis 1.000 Volt, mit Ausnahme von Freileitungen, braucht nicht geerdet oder kurzgeschlossen werden, wenn die Arbeitsstelle freigeschaltet, unbefugtes Wiedereinschalten sicher verhindert und der spannungsfreie Zustand festgestellt ist.
Besondere Vorsicht ist geboten, wenn Teile einer Anlage, in deren Nähe gearbeitet wird, unter Spannung bleiben müssen. Alle unter Spannung stehenden Anlageteile, die die Arbeitenden unmittelbar oder mittelbar gefährden, müssen abgedeckt sein, wenn die Anlage nicht freigeschaltet werden kann.
Ein gestärktes Sicherheitsbewusstsein habe sich für Thomas Engl persönlich erst während seiner Dozententätigkeit eingestellt. Für den Experten selbst war dies jedoch ein langer Prozess. Eine Chance für das betriebliche Umfeld sieht er darin, wenn Sicherheit vorgelebt und fest in den Arbeitsalltag integriert wird. Denn die beste Technik, qualitativ hochwertige Sicherheitskleidung, geprüfte Werkzeuge und die 5 Sicherheitsregeln der Elektrotechnik helfen nicht, wenn die jeweiligen Betriebe ihnen keine Beachtung schenken. Dazu gehöre deutlich mehr Strenge gegenüber unvorsichtigen Mitarbeitenden. „Der Spieß müsste komplett umgedreht werden, sodass Sicherheit wirklich gelebt wird. Wenn jemand einen Fehler macht, müssen Vorgesetzte darauf hinweisen.“ Diese Sorgfalt müsse ein fester Bestandteil der Ausbildung sein. Zeitdruck bzw. Druck, der zu Nachlässigkeit führt, sollte dagegen vermieden werden. Mitarbeitende, die sich penibel an Sicherheitsregeln halten, benötigen Rückhalt seitens des Betriebs.
Es ließe sich auch nach der Ausbildung viel über Seminare nachholen, aber die Einstellung der Fachkräfte müsse sich grundlegend ändern. „Das bedeutet es ja, eine Fachkraft zu sein. Sie müssen über den Tellerrand schauen und sich das fehlende Wissen notfalls selbst aneignen, z. B. über ein Seminar beim TÜV und Co.“ Hier fehle es vielen Unternehmen allerdings an Eigeninitiative, wie Thomas Engl erklärt. „Viele Betriebe führen Fortbildungen, Schulungen und Unterweisungen, die zum Teil jährlich durchgeführt werden müssen, nie durch.“ Sicherlich sei dies oft eine Kostenfrage. Das dürfe allerdings kein Argument für mangelnde Sicherheit sein. „Als Unternehmerin oder Unternehmer bin ich meinen Leuten verpflichtet, damit diese bei der Tätigkeit keinen Schaden erleiden. Und das muss ich mit einkalkulieren, egal wie hoch die Kosten sind.“
Auf der Herstellerseite wird bei der Produktion von Bauteilen und Komponenten elektrischer Anlagen sehr auf Sicherheit geachtet, wie Thomas Engl erklärt. „Die Sachen, die wir ‚legal‘ kaufen können und entsprechende Zulassungen etc. aufweisen, sind äußerst sicher. Wenn wir uns eine Steckdose von vor 30 Jahren anschauen, waren da komplett unisolierte Schlitzschrauben drin. Wenn wir heute eine Schutzabdeckung einer Steckdose abnehmen, müssen wir uns wirklich anstrengen und mit den Fingern kräftig gegen die Anschlüsse drücken, um einen Stromschlag zu bekommen. Die Isolierstoffe haben sich ebenfalls in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Früher handelte es sich noch um Isolationsmaterialien mit teils schlechten Isolationswiderstandswerten oder einer deutlich schnelleren Alterung. Heute kommen Materialien mit den vielseitigsten Eigenschaften zum Einsatz.“
Die künstliche Intelligenz macht ebenfalls vor der Elektrotechnik nicht halt. KI kann beispielsweise bei der Wartung bzw. vorausschauenden Wartung elektrischer Anlagen und generell bei der Gefahrenprävention unterstützen. Die Sicherheitsverantwortung liegt aber letztendlich immer beim Menschen und beim Betrieb. In Thomas Engls Augen sind Szenarien wie eine Vollüberwachung und zu viel Verlass auf Technik nicht unbedingt wünschenswert. „Ich muss den Fachkräften auch vertrauen und ihnen ein bisschen Freiheit zugestehen. Die Firma ist gefordert, sich regelmäßig von den Qualifikationen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu überzeugen und mit ihnen zu reden, um festzustellen, ob Wissen fehlt und wie sich dieses am besten ergänzen lässt.“ Regelmäßige sicherheitsbezogene Fragen seien bei diesem Prozess ebenfalls hilfreich.
Potenzial für die Zukunft sieht der Experte unter anderem in der Virtual-Reality-Technologie. „Der TÜV fängt jetzt mit Schulungen und Trainings mit VR-Brillen an, sodass viele Sachen auch mal ausprobiert werden können. So was finde ich gut.“ In Zusammenarbeit mit dem Start-up 3spin ermöglicht die TÜV NORD Akademie beispielsweise, verschiedene Trainings- oder Gefahrenszenarien in einer sicheren virtuellen Umgebung entweder im Zuge einer Weiterbildung oder innerhalb des eigenen Betriebs durchzuspielen. In Sachen Sicherheit haben wir laut Thomas Engl hierzulande trotz allem aber generell einen sehr hohen Standard. „Unter diesen Sicherheitsregeln, mit der richtigen Schutzkleidung und allen weiteren Vorkehrungen ist ein Unfall nahezu unmöglich. Wer sich aber mit dem Schicksal anlegt, bei dem ist es nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert.“
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