19. Juni 2025
Für Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen ist der Alltag oft voller Hürden – nicht zuletzt im Internet. Behörden sind in Deutschland zwar seit 2021 dazu verpflichtet, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten. Doch für die Onlineshops und Webseiten privater Anbieter gab es in den EU-Mitgliedsstaaten bislang keine einheitlichen Regelungen. Das ändert die europäische Barrierefreiheitsrichtlinie, die hierzulande am 28. Juni in Kraft tritt. Was das Gesetz für Nutzende bringt und welche Anforderungen Anbieter erfüllen müssen, das klärt unsere Checkliste.
Für wen und was gilt die Barrierefreiheitsrichtlinie?
Umgesetzt wird die europäische Richtlinie hierzulande durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Es nimmt die Hersteller, Händler, Anbieter und Importeure vernetzter Produkte und digitaler Dienstleistungen in die Pflicht.
Welche Produkte werden vom BFSG erfasst?
Die neuen Anforderungen gelten für Laptops, Tablets, Smartphones, vernetzte Fernseher und E-Book-Reader. Auch Geld- und Fahrkartenautomaten müssen barrierefrei werden. Diesen wurde allerdings eine Übergangsfrist bis 2040 eingeräumt.
Welche digitalen Dienstleistungen müssen barrierefrei werden?
Das Gesetz deckt eine große Bandbreite digitaler Dienstleistungen ab. Es gilt für die Webseiten und Apps von Banken, Messengerdiensten, Onlinehändlern, Reiseportalen, Streamingdiensten, Buchungstools wie Doctolib und allgemein für Angebote, bei denen man digitale Abonnements abschließen kann oder sich registrieren muss. Auch Webseiten und Apps zur überregionalen Personenbeförderung zu Lande, zu Wasser und in der Luft müssen künftig barrierefrei sein. Für digitale Dienstleistungen, die Nutzende vor dem Stichtag 28. Juni gebucht haben, gelten Übergangsfristen. Diese dürfen bis zum Ende der Vertragslaufzeit unverändert fortbestehen – maximal bis zum 27. Juni 2030.
Übersichtlich und verständlich: Auch für Menschen ohne Behinderung ist eine barrierefreie Webseite angenehmer und leichter zu bedienen.
Gibt es auch Ausnahmen?
Kleinstunternehmen, die weniger als zehn Mitarbeitende beschäftigen und jährlich maximal zwei Millionen Euro umsetzen, sind vom BFSG ausgenommen. Das gilt allerdings nur für digitale Dienstleistungen, nicht für Kleinstunternehmen, die vernetzte Produkte herstellen. Unternehmen sind gegebenenfalls auch von den Anforderungen befreit, wenn deren Umsetzung zu einer grundlegenden Veränderung ihres Produkts oder ihrer Dienstleistung oder zu einer unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Belastung führen würde. Dass das der Fall ist, müssen sie gegenüber den Marktüberwachungsbehörden belegen.
Welche Anforderungen müssen Webseiten erfüllen?
Webinhalte sollen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein. Das bedeutet konkret:
Wahrnehmbarkeit
- Grundsätzlich gilt: Die Inhalte sollen mit allen Sinnen erfassbar sein. Eine kontrastreiche Farbpalette sorgt etwa dafür, dass Texte und Bilder gut lesbar beziehungsweise sichtbar sind. Bilder und Grafiken müssen mit Textalternativen versehen werden, damit Menschen mit Sehbehinderung sie über einen Screenreader auslesen können.
- Damit auch hörgeschädigte Nutzende Videos und Audios erfassen können, müssen diese mit Untertiteln beziehungsweise Audiobeschreibungen versehen werden.
- Die Darstellung der Webseiten muss verschiedene Anpassungen erlauben, also etwa für unterschiedliche Bildschirmgrößen skalierbar sein.
Bedienbarkeit
- Alle Funktionen der Webseiten müssen mit der Tastatur zugänglich sein und damit auch für mobilitätseingeschränkte Menschen, die keine Maus nutzen können.
- Die Navigation sollte klar und einfach sein. Und die Seiten sollen so strukturiert werden, dass man sie auf unterschiedliche Weise navigieren kann.
- Nutzende müssen ausreichend Zeit bekommen. Warenkörbe, die sich nach einiger Zeit wieder leeren, oder Formulare, die sich zurücksetzen, können Menschen mit kognitiven, motorischen und visuellen Einschränkungen das digitale Leben schwer machen. Nutzende müssen daher die Möglichkeit haben, solche Zeitlimits anzupassen oder abzuschalten. Dasselbe gilt für die automatische Aktualisierung von Inhalten.
Verständlichkeit
- Texte sollten in einer einfachen und prägnanten Sprache verfasst werden, damit sie auch für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen leicht verständlich sind.
- Formulare und andere Eingabemöglichkeiten müssen klare Anweisungen und Korrekturvorschläge bieten, um Missverständnisse und Eingabefehler bestmöglich zu minimieren.
Robustheit
- Robustheit meint, dass Inhalte und Daten von Nutzenden mit unterschiedlichen technischen Voraussetzungen verwendet werden können. Die Webseiten müssen also kompatibel sein mit aktuellen und zukünftigen unterstützenden Technologien wie Screenreadern. In der Weiterentwicklung der Webseiten dürfen daher keine Maßnahmen umgesetzt werden, die diese Technologien unbrauchbar machen oder außen vor lassen.
- Die Informationen auf den Webseiten müssen außerdem standardisiert bereitgestellt werden, damit assistierende Technologien sie erkennen und richtig interpretieren können.
Wie wird die Einhaltung der Anforderungen an die Barrierefreiheit kontrolliert?
Die Bundesländer haben dazu in Magdeburg eine neue gemeinsame Behörde geschaffen. Diese Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen (MLBF) prüft stichprobenartig und wird außerdem bei Beschwerden von Nutzenden und Verbänden aktiv.
Was droht bei Verstößen?
Kommt die Marktüberwachungsstelle zu dem Schluss, dass eine Webseite oder ein Produkt nicht die Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt, muss das Unternehmen innerhalb einer gesetzten Frist nachbessern. Andernfalls drohen Bußgelder von bis zu 100.000 Euro. In schwerwiegenden Fällen müssen Unternehmen ihre E-Book-Reader vom Markt oder ihren Webshop vom Netz nehmen, bis sie barrierefrei geworden sind.
Warum sich Barrierefreiheit für alle lohnt
Fast jeder zehnte Mensch in Deutschland hat eine anerkannte Schwerbehinderung. Mit einer barrierefreien Webseite können Unternehmen ein breiteres Publikum erreichen. Auch für Menschen ohne Behinderung ist eine barrierefreie Webseite angenehmer und leichter zu bedienen. Nicht zuletzt: Selbst wenn wir aktuell noch über Adleraugen und ein Fledermausgehör verfügen – wir werden naturgemäß und unvermeidlich älter. Barrierefreiheit betrifft also nie nur die anderen, sondern früher oder später auch uns selbst.