17. Juli 2025
Selbst wenn das Wasser im Bach und im Fluss sauber aussieht: Nahezu jedes Gewässer in Deutschland ist mit Rückständen von Medikamenten, Kosmetika und Pestiziden verunreinigt. Diese Spurenstoffe machen nicht nur Wasserlebewesen schwer zu schaffen, sondern sammeln sich auch im Grundwasser an, aus dem sich unsere Trinkwasserversorgung speist. Mit gängigen Verfahren lassen sich die Schadstoffe nicht aus dem Wasser filtern. Klärwerke brauchen dazu eine vierte Reinigungsstufe, die die EU künftig zur Pflicht macht.
Dem Hessischen Ried geht es nicht gut. Denn die Flüsse, Bäche und Seen des einstigen Sumpfgebiets sind stark mit sogenannten Mikroverunreinigungen belastet: Rückstände von Medikamenten, Kosmetika, Pestiziden, Putz- und Frostschutzmitteln. Diese sogenannten Spurenstoffe heißen so, weil ihre Dosis gerade einmal ein Milliardstel bis Millionstel Gramm pro Liter Flusswasser beträgt. Unvorstellbar kleine Mengen, die aber gravierende Folgen für Wassertiere haben. Das Schmerzmittel Diclofenac beispielsweise, das in Schmerzgels enthalten ist, wie sie sich in jeder zweiten Hausapotheke finden, kann Leber und Nieren von Fischen massiv schädigen. Und Diclofenac ist nur einer von über 1.300 Stoffen im Abwasser, um deren Gefährlichkeit man weiß. In manchen Fällen ist dabei nicht einmal die Chemikalie selbst problematisch, sondern ihre Abbauprodukte.
Artenschwund durch Abwasser
Forschende der Universität Frankfurt haben in einer groß angelegten Studie bei 170 hessischen Kläranlagen einen Artenschwund nachgewiesen: Von den Arten, die sich oberhalb der Kläranlagen im Wasser tummelten, waren nach Einleitung des Kläranlagenwassers 62 Prozent verschwunden.
Das Problem: Die Spurenstoffe sind gut wasserlöslich und schlecht biologisch abbaubar. Mit herkömmlichen Methoden können sie daher nicht aus dem Wasser herausgefiltert werden. Und sie beeinträchtigen nicht nur Fortpflanzung, Entwicklung und Wachstum von Fischen, Schnecken und Bachflohkrebsen: Auch die Menge dieser Substanzen im Grundwasser nimmt zu. „Insofern stellt das eine immer größere Bedrohung dar, letztlich auch für unsere Wasserressourcen und die Qualität des Wassers“, sagte der Ökotoxikologe Jörg Oehlmann gegenüber dem Hessischen Rundfunk. Der Forscher der Goethe-Universität in Frankfurt untersucht mit seinem Team die Wasserqualität hessischer Flüsse. Und die ist im Hessischen Ried besonders entscheidend. Denn das Gebiet ist das größte Grundwasserreservoir des Bundeslandes und liefert Trinkwasser für rund zwei Millionen Menschen – also für fast ein Viertel aller Hessinnen und Hessen.
Aktivkohle gegen Spurenstoffe
Die im Ried gelegene Verbandskläranlage Bickenbach hat daher zugebaut und die in Klärwerken üblichen drei Reinigungsstufen (siehe Kasten) um eine weitere Stufe ergänzt. In dieser vierten Reinigungsstufe wird das Abwasser zunächst vorfiltriert. Dann wird es mit Ozon behandelt, um die Spurenstoffe zu oxidieren. Den dabei entstehenden Abbauprodukten, aber auch den Spurenstoffen, die nicht auf Ozon reagieren, wird dann mit Aktivkohle zu Leibe gerückt. Durch die große Oberfläche der sehr fein gemahlenen Aktivkohle haften die Spurenstoffe besonders gut, werden entweder biologisch abgebaut oder wie ein Schwamm gebunden und anschließend mit dem Klärschlamm entfernt.
Auf diese Weise können über 80 Prozent der Stoffe aus dem Wasser herausgezogen werden. Außerdem werden Belastungen durch Phosphor und Stickstoff weiter reduziert. Bickenbach ist damit nach Angaben der Kommune die fortschrittlichste und leistungsfähigste Kläranlage in ganz Hessen. Und mit ihrer vierten Reinigungsstufe die dritte ihrer Art im Bundesland.
© Adobe StockSchadstoffe sammeln sich auch im Grundwasser an. Mit der neuen, vierten Reinigungsstufe können Kläranlagen mehr als 80 Prozent der schädlichen Substanzen herausfiltern.
© Adobe StockUnversehrte Natur? Nicht unbedingt. Kleinste Spurenstoffe belasten nahezu jedes Gewässer in Deutschland.
Ausbaupflicht in der EU
Doch während die Schweiz 2016 eine Pflicht zur vierten Stufe eingeführt hat, wurden in der Europäischen Union Projekte wie in Bickenbach auf freiwilliger Basis und gestützt auf Fördergelder umgesetzt. Mittlerweile hat die EU nachgebessert: Mit der novellierten EU-Kommunalabwasserrichtlinie (kurz: KARL) müssen die größten Kläranlagen bis 2045 mit einer vierten Stufe nachgerüstet werden. Laut Umweltbundesamt (UBA) betrifft das 155 Kläranlagen. Kleinere Kläranlagen müssen nachgerüstet werden, wenn sie in Risikogebieten liegen, also etwa dort, wo Trinkwasser gewonnen wird. Laut Fachleuten des UBA betrifft das etwa 580 bis 600 Klärwerke.
Bislang sind in Deutschland aber gerade einmal 61 Klärwerke auf Stufe vier, die meisten davon in Baden-Württemberg und NRW. Bei 71 ist der Ausbau geplant. Dass es so langsam vorangeht, liegt in erster Linie an den Kosten. In Bickenbach hat der Bau rund zehn Millionen Euro gekostet: Die eine Hälfte übernahm das Land, die andere Hälfte musste von den Kommunen gestemmt werden. Hinzu kommen die hohen Betriebskosten, denn die vierte Reinigungsstufe benötigt besonders viel Energie.
Laut einer Studie des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU) wird der Ausbau und Betrieb der zusätzlichen Reinigungsstufen in Deutschland bis 2045 knapp neun Milliarden Euro erfordern. Damit diese Kosten nicht allein bei den Verbrauchenden hängen bleiben, nimmt die EU mit der neuen Abwasserrichtlinie erstmals die Hersteller in die Pflicht: Produzenten von Arzneimitteln und Kosmetika müssen sich künftig zu 80 Prozent am Ausbau und Betrieb der vierten Reinigungsstufe beteiligen. Die Mitgliedsstaaten müssen die Richtlinie bis Ende 2027 in nationales Recht umgesetzt haben, Ende 2028 wird dann die Herstellerverantwortung greifen.
Konflikt um KARL
Kommunale Verbände feierten die neue Richtlinie als Meilenstein in der europäischen Gewässerpolitik. Richtig umgesetzt, werde die Herstellerverantwortung den Geldbeutel der Abwasserkundinnen und -kunden entlasten und dafür sorgen, dass Hersteller vermehrt auf Produkte setzen, die weniger gewässerbelastend sind, befand der VKU.
Die Pharmaindustrie aber macht gegen die Richtlinie mobil. Mehrere Pharmakonzerne haben im März beim Gericht der Europäischen Union Klage gegen KARL eingereicht. Das Argument der Unternehmen: Die Spurenelemente in den Gewässern seien nicht allein auf Human-Arzneimittel oder Kosmetika zurückzuführen. Daher seien sie nicht die alleinigen Verursacher und würden ungerechtfertigt die Kosten der vierten Reinigungsstufe tragen. Außerdem ließen sich durch die Mehrbelastung viele Medikamente in Europa nicht mehr kostendeckend produzieren.
Der Deutsche Städtetag und andere kommunale Verbände halten dagegen: Der von Brüssel geforderte Ausbau sei ohne die Beteiligung der Hersteller nicht zu stemmen. Um den Ausbau nicht zu verzögern und den Kläranlagenbetreibern Planungssicherheit zu geben, müsse die Herstellerverantwortung zügig in nationales Recht umgesetzt werden.
Arten-Comeback im Geräthsbach
Während noch um KARL gerungen wird, steht bereits fest: Die vierte Stufe wirkt, wie der wissenschaftliche Blick in den Geräthsbach im Hessischen Ried zeigt. In den Bach fließt das Wasser der Kläranlage Mörfelden-Walldorf, die seit 2023 mit einer vierten Stufe arbeitet. Innerhalb dieser zwei Jahre hat sich die Fruchtbarkeit der Organismen im Geräthsbach schon verbessert, wie das Team um Forscher Oehlmann herausgefunden hat. Und viele empfindliche Arten seien jetzt schon wieder nachweisbar.
Das Ökosystem beginnt sich also langsam zu erholen. Doch es braucht Zeit, bis sich die Lebensgemeinschaft unter der Wasseroberfläche auf die verbesserten Bedingungen einstellt. Vor allem fließt auch das Wasser aus der Kläranlage Langen in den Geräthsbach. Und die hat keine vierte Reinigungsstufe. Zumindest noch nicht: Im März 2025 hat das Land Hessen eine Förderung von zehn Millionen Euro für eine vierte Stufe bewilligt, 2028 soll sie in Betrieb gehen. Um im Geräthsbach für noch einmal spürbar spurenstoffärmere Verhältnisse zu sorgen.
Die gängigen drei Stufen der Abwasserreinigung
1. Mechanische Reinigung – das Gröbste herausrechen
Zuerst gilt es, die groben Verunreinigungen aus dem Abwasser herauszubekommen: Papierfetzen, Fäkalien, Speisereste und Sand werden mit Rechen und in Absetzbecken herausgefiltert, damit sie die Pumpen der Anlage nicht verstopfen können. Dieser sogenannte Primärschlamm wandert dann weiter in Faultürme, wo daraus Methan gewonnen wird, mit dem in Blockheizkraftwerken Strom und Wärme erzeugt wird.
2. Biologische Reinigung – mikroskopisch kleine Reinigungsarmada
Für das vom Gröbsten befreite Abwasser geht es nun weiter ins Belebungsbecken. Hier wartet der sogenannte Belebtschlamm – eine Mischung aus Bakterien, Pilzen, Einzellern und Schlamm. Diese Mikroorganismen „vertilgen“ organische Stoffe wie Eiweiße, Fette oder Zucker und wandeln sie in Biomasse um. Einige der Bakterien bauen auch Stickstoffverbindungen ab. Damit die mikroskopische Reinigungsarmada effektiv arbeiten kann, wird das Wasser im Belebungsbecken mit Sauerstoff angereichert. Der lebendige Schlamm setzt sich dann im Nachklärbecken ab und wird größtenteils in Belebungsbecken geleitet, wo das nächste Festmahl auf die Mikroorganismen wartet. Das Abwasser fließt weiter zur chemischen Reinigung.
3. Chemische Reinigung – Phosphate fällen
Hier werden jetzt die Phosphate und andere chemische Reststoffe in Angriff genommen. Mit speziellen Mitteln wie Eisenchlorid oder Aluminiumsulfat werden diese im Wasser gelösten Stoffe „gefällt“, also verfestigt und als Schlammteilchen abgeschieden. Diese Stufe ist besonders wichtig, um eine Überdüngung und damit ein Umkippen der Gewässer zu verhindern. In Industriekläranlagen werden in dieser Stufe auch Schwermetalle, Salze und andere problematische Stoffe entfernt.