05. Juni 2025
Gut ein Jahr unseres Lebens verbringen wir im Schnitt wartend: an der Kasse, an der Ampel, bei der Ärztin, auf dem Amt. Für viele ist diese auferlegte Untätigkeit eine Qual. Für manche so sehr, dass sie Geld auf den Tisch legen, um sich vom Anstehen freizukaufen: Ganze Geschäftsmodelle wie das „Priority Boarding“ am Flughafen oder die „Fast-Lane-Pässe“ im Freizeitpark speisen sich aus dieser Warteaversion. Aber warum warten wir so ungern, und was sorgt dafür, dass uns das Warten mal besonders schwer und mal leichter fällt?
Jede Supermarktkassenschlange ist ein Kontrollverlust: Wir harren darauf, endlich dranzukommen – doch wann es so weit ist, darauf haben wir keinen Einfluss. Dieses Gefühl der Ohnmacht widerstrebe unserem allzu menschlichen Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, sagt der Soziologe Rainer Paris, der sich wissenschaftlich mit dem Warten beschäftigt hat, gegenüber dem MDR.
Der Beleg dafür: Beim freiwilligen, also selbst gewählten Warten scheint die Zeit schneller zu vergehen. Das hat ein Experiment in Kalifornien gezeigt. Ein Teil der Studierenden, die mit Bus und Bahn zur Uni fahren wollten, konnten zwischen zwei Alternativen wählen: 75 Cent zahlen und sofort losfahren oder fünf Minuten warten und dann kostenlos einsteigen. Und siehe da: All jenen, die sich fürs Warten entschieden hatten, erschien die Zeit bis zur Abfahrt kürzer als anderen Fahrgästen, die ebenso lange, aber unfreiwillig an der Haltestelle standen.
Ob, wann und dass wir uns übers Warten ärgern, habe „viel mit unserer Kultur zu tun“, sagt Katrin Müller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Düsseldorf. Manche Kulturen begreifen Zeit als zyklisches Phänomen ohne Anfang und Ende. „Nach unserem Verständnis geht sie jedoch unwiederbringlich vorbei“, erklärt die promovierte Psychologin. „Deshalb ist Zeit für uns ein kostbares Gut. Sie kann investiert oder gespart, verschwendet oder gestohlen werden.“
Gutes Warten, schlechtes Warten
Ob wir das Gefühl haben, dass uns unsere kostbare Zeit gestohlen wird oder wir diese gerade gut investieren, hängt davon ab, worauf wir warten. Für ein attraktives Ziel warten wir zumindest nicht ungern, vielleicht sogar voller Vorfreude: sei es auf den Weihnachtsmann, ein brandneues elektronisches Endgerät oder den Einlass ins einzige Europakonzert unserer Lieblingsband. Ist das Ziel dagegen nicht besonders attraktiv, etwa der Pflichtbesuch zur Dokumentenverlängerung auf dem Bürgeramt, oder sogar angsteinflößend, etwa die Besprechung der Untersuchungsergebnisse in der Onkologiepraxis, wird die Zeit als länger empfunden. Die Anspannung steigt, und die Stimmung sinkt.
Womit wir besonders schlecht umgehen können: unsichere Wartesituationen. Die Forschung hat gezeigt: Je schlechter wir einschätzen können, wie lange es noch dauert, desto mehr Stress empfinden wir. Um dem entgegenzuwirken, stellen die Betreibenden von Freizeitparks Schilder auf, wie „Ab hier noch 30 Minuten“. Und sie arbeiten dabei gerne mit einem Trick: Die angegebenen Zeiten sind oft etwas zu hoch angesetzt. Kommt man dann früher als erwartet an die Reihe, steigt die Stimmung, und man betritt gut gelaunt die Achterbahn. In Erinnerung behält man so tendenziell eher die positive Überraschung als die vorausgegangene Wartezeit.
Schlangen aller Ämter, vereinigt euch!
Großes Frustpotenzial bietet das dumpfe Gefühl, in der falschen Schlange zu stehen: Geht es in der anderen nicht viel schneller voran und in der eigenen gar nicht von der Stelle? Um diesem nagenden Unbehagen keinen Nährboden zu bieten, wurde in Postfilialen, am Bahnhofsschalter und in vielen Banken das Warten gebündelt: Statt mehrerer Wartespuren gibt es nur noch eine Reihe. Ist man vorne angekommen, läuft man zum nächsten frei gewordenen Schalter. Das verhindert Schlangenneid und sorgt sogar messbar für mehr Gerechtigkeit: Wer zuerst da ist, kommt garantiert auch zuerst dran.
Auf das Ende kommt es an
Um die Qualen des Wartens zu lindern, kann es bereits genügen, das Ende der Wartezeit weniger unangenehm zu gestalten. Ein Team um den Ökonomen und Nobelpreisträger Daniel Kahneman ließ Versuchspersonen zuerst eine Minute lang eine Hand in 14 Grad kaltes Wasser tauchen, dann für anderthalb Minuten die andere Hand, wobei nun aber nach einer Minute die Wassertemperatur auf 15 Grad stieg.
Als sie danach wählen konnten, welche Prozedur sie wiederholen wollten, entschieden sich die meisten für die zweite, obwohl sie länger dauerte. Doch das erschien ihnen offenbar weniger schlimm, weil das wärmere Wasser die Schlussphase erträglicher machte. Ein solches gutes Wartefinale ist auch deshalb wichtig, da unsere Ungeduld umso mehr steigt, je näher wir unserem Ziel rücken – sei es dem Baustellenende oder dem Kassenband, wie Forschende der University of Texas in Austin in mehreren Experimenten beobachteten.
Zehenklavier gegen die Wartequal
Aber könnte man nicht einfach die gesamte Wartezeit angenehmer gestalten? Die Bank of Boston hat das bereits vor mehr als 30 Jahren in einer wissenschaftlich begleiteten Feldstudie versucht. Zwei Maßnahmen wurden abwechselnd erprobt: ein Bildschirm mit Nachrichten und eine Zeitanzeige samt geschätzter Wartedauer. Das Ergebnis: Die Zeitanzeige minderte weder den Stresslevel noch steigerte sie die Zufriedenheit der Kundschaft – vermutlich, weil die angezeigte Uhrzeit die Aufmerksamkeit verstärkt auf das Warten lenkte. Das Nachrichtenboard dagegen machte die Wartezeit ein wenig angenehmer.
„Der Schlüssel liegt darin, die Aufmerksamkeit vom Warten abzulenken“, erläutert Katrin Müller von TÜV NORD. Ein berühmte Studienreihe belegte das bereits vor mehr als 50 Jahren. Der Psychologe Walter Mischel hatte Kleinkinder vor die Wahl gestellt, eine vor ihnen liegende Süßigkeit entweder gleich zu essen oder 15 Minuten zu warten und dafür eine weitere zu bekommen. Rund ein Drittel der Kinder schaffte es, der Verlockung so lange zu widerstehen, jedes Vierte hielt immerhin die Hälfte der Zeit durch.
Dabei half ihnen besonders eine Strategie: sich abzulenken und anderweitig zu beschäftigen. Manche sangen sich selbst Lieder vor, andere zogen die Schuhe aus und spielten auf ihren Zehen Klavier. „Kinder wandeln die äußerst schwierige Aufgabe des Wartens in etwas um, das weniger anstrengend ist“, so Mischel über die Erkenntnisse aus seinen Studien.
Gemeinsam wartet es sich besser als allein
Bei Erwachsenen ist das nicht anders. Einige ertragen sogar lieber Schmerzen als Langeweile, wie eine Studie an der University of Virginia zutage förderte. Versuchspersonen sollten 15 Minuten lang in einem leeren Raum auf einem Stuhl sitzen. Ihre einzige Option: sich per Knopfdruck selbst Stromstöße zu verabreichen. Und tatsächlich taten dies zwei von drei Männern und jede vierte Frau – obwohl alle den Stromstoß bei einem Vorversuch unangenehm fanden.
Das Experiment demonstriert, wie qualvoll es sein kann, einfach nur dazusitzen und darauf zu warten, dass die Zeit vergeht. Stattdessen zum Elektroschocker zu greifen ist allerdings auch nur bedingt empfehlenswert. Und in der Öffentlichkeit auf den eigenen Zehen Klavier zu spielen mag dem einen oder der anderen jenseits des Kita-Alters doch etwas unangenehm sein. Für den Fall also, dass es im Wartezimmer mal wieder länger dauert und keine spannende Lektüre zur Hand ist, hat die Psychologin Katrin Müller daher einen anderen Rat: einfach mal die Mitwartenden ansprechen. Denn gemeinsam wartet es sich kurzweiliger als allein, wie eine chinesische Studie ergeben hat. Und ein Gespräch mit Fremden verläuft oft netter als erwartet, sagt die Psychologin. „Wenn man Glück hat, ist es so nett, dass man am Ende gerne noch ein paar Minuten länger gewartet hätte.“