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Zukunft des Bahnverkehrs

Comeback des Nachtzugs

Wie der Zug zur Alternative zum Flieger werden kann.

30. September 2021

Rollen statt fliegen: Wenn wir den Klimawandel ausbremsen wollen, muss in Zukunft deutlich mehr Verkehr auf der Schiene stattfinden – diese Erkenntnis hat sich parteiübergreifend durchgesetzt. Schnellere Züge in kürzeren Takten sollen viel mehr Menschen künftig auch über Nacht umweltfreundlich und komfortabel an ihr Ziel bringen. Wie der Weg zu einem besseren und bequemeren Zugverkehr aussehen kann.

 

Schneller und entspannter ans Ziel

„Flugscham“ hat sich in den vergangenen Jahren zu einem geflügelten Begriff entwickelt, der zunehmend auch politische Kreise zieht. Nach dem Willen der EU-Kommission sollen bis 2030 doppelt so viele Hochgeschwindigkeitszüge über den Kontinent rollen, innereuropäische Kurzstreckenflüge weitestgehend verschwinden. Bis Ende des Jahres will die Kommission ein Aktionsprogramm für besseren Bahnverkehr vorlegen. Dafür haben auch europäische Verkehrsministerinnen und Verkehrsminister die ersten Weichen gestellt: Der „Trans-Europ-Express“ vernetzte zu seiner Hochzeit 100 Städte in Europa. Nun sollen die schnellen und direkten Zugverbindungen wiederbelebt werden. 22 europäische Länder haben bislang eine Absichtserklärung für den sogenannten TEE 2.0 unterzeichnet.

Vier grenzüberschreitende Verbindungen sieht das Konzept in einer ersten Stufe vor, vier weitere sollen später folgen. Eine direkte Reise von Berlin nach Barcelona oder von Amsterdam nach Rom würde nach diesen Plänen 13 Stunden dauern. Gegenüber gut zwei Stunden Flugzeit zwar immer noch kein Katzensprung, dafür aber rund sieben Stunden weniger, als man heute auf diesen Strecken im Zug und an Bahnhöfen verbringt. Und grundsätzlich sind die Reisen von Zentrum zu Zentrum geplant. Außerdem sollen acht Nachtzugverbindungen auf diesen Strecken unterwegs sein. „Abends in München oder Berlin in den Zug steigen und morgens entspannt in Paris oder Brüssel ankommen“, bewirbt Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer das Konzept, das parallel zum „Deutschlandtakt“ hochgezogen werden soll. Dieser soll Städte in Deutschland im Halbstundentakt miteinander verbinden und auch auf dem Land bequemes Umsteigen ohne Wartezeiten erlauben.

Eine Stärkung des grenzüberschreitenden Zugverkehrs sei zwar grundsätzlich eine gute Idee, befindet der Bahnexperte Christian Böttger von der HTW Berlin. Aber die Umsetzung der Pläne sei bislang noch reichlich vage. Immerhin: In einem ersten konkreten Schritt haben Deutschland, Tschechien und Österreich den Ausbau einer neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin-Prag-Wien vereinbart, die Teil des Projekts TEE 2.0 werden soll. Wien kann dadurch von Berlin aus in fünf statt acht Stunden erreicht werden – allerdings erst ab Mitte der 2030er-Jahre.

Die ÖBB fahren weiter durch die Nacht

Pate für den TEE 2.0 dürfte auch der Erfolg der Österreichischen Bundesbahnen gestanden haben. Während sich die Deutsche Bahn 2016 vom Nachtzug verabschiedete, halten die ÖBB an den Schlafwagen fest und sind nach eigenen Angaben damit profitabel. 19 Nightjet-Linien bedienen die ÖBB, zusammen mit Partnerbahnen sind es 28. Und die Nachfrage wächst. Wurden 2017 noch 1,4 Millionen Fahrgäste durch die Nacht befördert, waren es 2018 schon 1,6 Millionen. Auch 2019 seien die Fahrgastzahlen je nach Linie um bis zu 20 Prozent gestiegen. Ein beachtliches Wachstum im Verhältnis zu den 38 Millionen Menschen, die die ÖBB insgesamt 2019 im Fernverkehr beförderten, jedoch nach wie vor eine überschaubare Zahl. Die in den kommenden Jahren aber weiter steigen kann, ist der Bahnbetreiber überzeugt.

Bis Mitte des Jahrzehnts wollen die ÖBB weitere 700 Millionen Euro in den Ausbau ihrer Nachtzugverbindungen stecken und die Fahrgastzahlen verdoppeln. Auch mit neuen Nightjets, die ab kommendem Jahr die fahrende Übernachtung bequemer machen sollen als die teils in die Jahre gekommenen Waggons der Bestandsflotte. Aber auch andere Bahnbetreiber haben den Nachtzug wieder für sich entdeckt. Seit Juni können Fahrgäste von Berlin aus über Hamburg nach Kopenhagen, Malmö und Stockholm im Schlafwagen fahren. Die Deutsche Bahn will zwar keine neuen Schlafwagen anschaffen, steuert aber ihre Sitzwagen in Kooperationen mit anderen Bahngesellschaften bei. Ab Dezember sollen zwei weitere Verbindungen neu im Fahrplan stehen. Die EU-Kommission will ihrerseits prüfen, auf welche Weise sie neuen Nachtzügen auf den Weg helfen kann, wie Kommissionschefin Ursula von der Leyen ankündigte.

Der Umstieg ist eine Preisfrage

Der mögliche Erfolg von Nachtzügen ist dabei nicht zuletzt eine Preisfrage, wie eine Umfrage der Umweltorganisation Germanwatch ergeben hat. 73 Prozent der Befragten denken, dass Züge auf denselben Strecken günstiger sein sollten als Flüge. Das sind sie teilweise heute bereits – zumindest, wenn man bereit ist, längere Strecken im Sitzen zurückzulegen. Ein günstiger Direktflug von Berlin nach Wien ist ab 60 Euro zu haben. Im Zug ist man auf derselben Strecke zwar bereits unter 40 Euro dabei. Dafür muss man allerdings eine Fahrtzeit von 8,5 Stunden einplanen. Über Nacht im Liegewagen werden 100 Euro fällig, im Zweier-Schlafwagen rund 150 Euro. Wer nachts nicht auf eine eigene Toilette und morgens auf eine eigene Dusche verzichten will, muss mit 170 Euro rechnen.

Klar ist: Komfort, Service und Platz, den man mit einer Nachtzugfahrt bucht, haben ihren Preis – und der lässt sich nicht beliebig drücken, wenn es nicht auf Kosten der Qualität oder der Gehälter der Zugbegleitenden gehen soll. Eine zentrale Stellschraube für wirtschaftlichen Zugverkehr und erschwinglichere Fahrkarten sind aus Sicht von Verkehrs- und Umweltverbänden die Gebühren für die Trassennutzung. Und die machen laut Berechnungen der Denkfabrik „Agora Energiewende“ ein Viertel bis ein Drittel der Betriebskosten eines Personenzuges aus. Ein finanzieller Flaschenhals, da viele internationale Verbindungen durch Deutschland führen. Initiativen wie Allianz pro Schiene fordern daher, dass künftig der Bund das Gros der Unterhaltskosten für die Schienenwege tragen soll. Auf diese Weise ließen sich die Trassenpreise halbieren. Das käme nicht nur dem grenzüberschreitenden Tag- und Nachtzugverkehr zugute, sondern würde auch die Marktbedingungen für den Personen- und Güterverkehr in Deutschland deutlich verbessern.

 

Unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen

Noch wird die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene aber auch durch unfaire Wettbewerbsbedingungen ausgebremst, kritisiert Bahnexperte Böttger von der HTW Berlin. „Der Flugverkehr ist nach wie vor hoch subventioniert.“ Während die Bahn neben der Stromsteuer auch eine EEG-Umlage zahlt und damit die Energiewende mitfinanziert, sind die Fluggesellschaften von der Mineralölsteuer befreit und leisten nur vergleichsweise geringe Emissionsabgaben. Zudem hat kein anderes Verkehrsmittel so umfangreiche Fahrgastrechte wie der Schienenverkehr. Wo etwa die Bahn ihre Passagierinnen und Passagiere bereits nach einer Stunde Verspätung entschädigen muss, darf ein Flieger bis zu drei Stunden nach der Ankunftszeit aufsetzen. Und während man für eine Zugfahrt von Berlin nach Wien für die Fahrtstrecke in Deutschland sieben Prozent Mehrwertsteuer zahlt, sind internationale Flüge grundsätzlich mehrwertsteuerfrei. „Würden diese Kostenvorteile entfallen, wäre ein Kurzstreckenflug um 50 bis 80 Euro teurer“, überschlägt Böttger. Damit könnte selbst eine komfortable Fahrt im Schlafwagen preislich zum Flieger aufschließen.

 

Woran es in Deutschland (noch) hakt

Für den Bahnexperten ist der Nachtzug dabei nur eine Säule im Zugverkehr der Zukunft. Denn auch mit einem wachsenden Netz sind die Kapazitäten der Züge naturgemäß begrenzt. „Ein großer ICE hat mehr als 800 Plätze, in einen Nachtzug passen dagegen vielleicht 200 Fahrgäste“, kalkuliert Böttger. Und während der ICE im Stundentakt unterwegs ist, rollen die Nachtzüge auf ihren Strecken bislang einmal pro Nacht. Daher brauche es seiner Ansicht nach künftig mehr und schnellere Züge am Tag.

Die Stärkung des Zugverkehrs auch auf internationaler Ebene stehe und falle dabei mit dem Ausbau des Schienennetzes in Deutschland – und mit dem geht es seit Jahren nur mühsam voran. „Wir haben einen massiven Nachholbedarf in Deutschland. Und wenn wir wirklich Verkehr verlagern wollen, haben diese nationalen Strecken höchste Priorität“, so Böttger. Die Gründe für den Baustau sind vielfältig: Neben hoch komplizierten Planungsverfahren werde der Ausbau wie etwa auch in der Windkraft durch immer erbittertere Anwohnerproteste ausgebremst. „Bürgerbeteiligung und Einspruchsrechte sind ein wichtiger Teil unseres demokratischen Systems. Wir müssen aber darüber nachdenken, wie sich diese Prozesse verschlanken lassen“, so Böttger.

Hinzu kommen Engpässe bei Personal und finanziellen Ressourcen. Geplanten Bauprojekten in Höhe von 100 Milliarden Euro stehe aktuell ein Neubaubudget von zwei Milliarden gegenüber. „Wir brauchen deutlich mehr Geld für die Infrastruktur und verbesserte Planungsprozesse mit klarer Prioritätensetzung, um den Bau und Betrieb der Eisenbahn in den kommenden Jahren tatsächlich voranzubringen.“ Es ist also noch einiges zu tun, damit wir künftig komfortabel, bezahlbar und klimafreundlich unsere Ziele über die Schiene statt über die Luft erreichen können.

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