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Elefant und Roboterarm
Roboter

Inspired by nature: Bionische Roboter

13. Juni 2019

Fliegen, schwimmen, klettern, fressen, ohne gefressen zu werden – seit Urzeiten entwickeln Lebewesen erfolgreiche Strategien, um sich an ihre Umgebung anzupassen. Logisch und naheliegend, dass findige Ingenieure versuchen, solche Verfahren oder Mechanismen auf die Technik zu über­tragen. Der Erfinder des Klett­verschlusses etwa ließ sich von der Kletten-Pflanze inspirieren. Und auch in der Robotik hält die sogenannte Bionik zunehmend Einzug.

Behutsam greift der graue Rüssel nach dem Apfel am Boden der Box, hebt ihn vorsichtig auf und reicht ihn Angela Merkel, die ihn sichtlich erfreut entgegen­nimmt. Eine Erdnuss wechselt anschließend nicht den Besitzer. Denn tatsächlich kam die Bundes­kanzlerin 2010 auf der Hannover Messe nicht mit einem realen Dick­häuter in Berührung. Bei dem Rüssel handelte es sich um einen Roboter­arm, zu dem sich der Hersteller Festo vom natürlichen Vorbild inspirieren ließ. Die Idee dahinter: Abgesehen von der menschlichen Hand ist kaum ein anderes Greiforgan in der Natur so multi­funktional. Und anders als in der Hand steckt in dem Rüssel keine Knochen­struktur, sondern 40.000 Muskeln. Das macht ihn enorm beweglich und flexibel und erlaubt es dem Elefanten, die gewaltige Kraft seiner verlängerten Nase sehr sorgsam einzusetzen, um selbst kleinste Gegen­stände aufzuheben. Ein Prinzip, von dem die Entwickler bei Festo sich einiges abschauen wollten. Die Heraus­forderung: Der Roboter­arm sollte möglichst nach­giebig sein, um Menschen nicht zu verletzen, und zugleich steif genug, um seine Aufgaben auszu­führen. Die Lösung der Ingenieure: Polyamid statt Metall, Pressluft statt starrer Bauweise. Die bringt im Zusammen­spiel mit einer besonderen Konstruktion neue Vorteile mit sich, von der reale Elefanten nur träumen können: Befindet sich ein Gegen­stand eigentlich außer Reich­weite, genügt ein Druck­luft­stoß, um den Rüssel in Sekunden­bruch­teilen von 70 auf 110 Zenti­meter zu verlängern.

Biologie + Technik = Bionik

Mittlerweile hat Festo den Roboterarm in mehreren Generationen weiter­entwickelt. Und er ist längst nicht das einzige Projekt der baden-württem­bergischen Automatisierungs­experten, das bionischen Prinzipien folgt. Bionik, ein Kunstwort aus Biologie und Technik, bezeichnet die systematische Über­tragung von Mechanismen und Verfahren aus der Natur auf Technik. Der „FlexShapeGripper“ orientiert sich etwa an der Zunge eines Chamäleons, der „TentacleGripper“ am Tentakel­arm eines Oktopus. Letzteres Modell könnte künftig etwa älteren oder körperlich beeinträchtigten Menschen im Alltag zur Hand gehen. Auch der Greifer, mit dem der Roboter­arm der Bundes­kanzlerin den Apfel reichte, hat ein Vorbild in der Fauna: Der sogenannte „FinGripper“ ist der Schwanz­flosse eines Knochen­fischs nach­empfunden. Der Greifer ist so konstruiert, dass er sich wie die Flosse um einen Druck­punkt herum­wölbt und sich so dem Gegen­stand anpasst, nach dem er greift. Dabei verteilt sich die Kraft – und das laut Hersteller umso besser, je stärker der Anpress­druck. Dadurch kann der Greifer sogar empfindliche Gegen­stände wie Früchte, Glüh­birnen oder Schokoladen­eier auf­nehmen, ohne sie zu zerquetschen. Festo zufolge wird der mittler­weile serien­reife Greifer bereits in der Lebens­mittel­industrie eingesetzt, um Obst oder Gemüse zu sortieren.

InspiRat – Vorbild Ratte

Entstanden sind diese Projekte im Rahmen des „Bionic Learning Network“, das Festo im Jahr 2006 aus der Taufe gehoben hat. Das Hersteller­unter­nehmen arbeitet dabei mit verschiedenen Forschungs­ein­richtungen aus Deutschland, Österreich, Norwegen und den Niederlanden zusammen. Einer dieser Partner ist die TU Ilmenau.

Hier im Fachbereich Biomechatronik beschäftigen sich die Forscher mit der Entwicklung und Verbesserung mechatronischer Produkte und Verfahren und nutzen dazu das Wissen aus Biologie und Medizin. „Ingenieure haben sich schon immer auch von der Natur zu ihren Ideen inspirieren lassen“, sagt Hartmut Witte, der Leiter des Fachgebiets. Otto Lilienthal etwa beobachtete Vögel, optimierte so seine Flug­maschine und schwang sich als erster Mensch in die Lüfte. „Und die Bionik ist eben eine Methode, diese Assoziations­fähig­keit zu fördern, zu systematisieren und die Anregung für die Entwicklung technischer Produkte so auf eine breitere Basis zu stellen“, erklärt Witte. Bionik soll Technik also nicht etwa ganz neu erfinden, sondern in Analogie zur Natur Lösungen für technische Probleme finden, bei denen herkömmliche Verfahren bislang an ihre Grenzen stießen.

Dazu tragen die Experten aus verschiedenen Fach­bereichen ihr Wissen zusammen, denn Bionik ist immer eine inter­disziplinäre Angelegen­heit. Gemeinsam mit Biologen der Universität Jena und dem Ilmenauer Robotik­unter­nehmen Tetra haben die Ingenieure zum Beispiel im Projekt „InspiRat“ einen Kletter­roboter gebaut. Der kleine und leichte „Ratnic“ kann dorthin klettern, wo es für Mensch und bisherige Service-Roboter zu eng oder zu steil ist. So könnte er etwa durch Kabel­schächte kriechen, um mit einer Mini­kamera Schäden an Leitungen zu suchen.

Analogie statt Mimikry

Optisch erinnert der aus Aluminiumrohren, Federn und Seil­zügen konstruierte Roboter nicht unbedingt an den intelligenten Nager. Und das hat durch­aus Methode. „Die Faust­regel ist: Wenn wirklich Bionik drinsteckt, sieht man es von außen nicht“, erläutert Witte. Denn den Bionikern geht es darum, das Bewegungs­prinzip der Ratte auf ein Roboter­system zu über­tragen, anstatt die Natur eins zu eins zu kopieren. Dazu wurden die Kletter­künste des Nagers zunächst gründlich von den Zoologen der Universität Jena durchleuchtet. Und zwar mit einer Hoch­geschwindig­keits-Röntgen­anlage, vor der sie die Ratten nach oben krabbeln ließen. Obwohl die Forscher um den Biologen Prof. Dr. Martin S. Fischer sich bereits seit Jahren mit der Bewegung von Klein­säuge­tieren beschäftigten, förderte dieses Verfahren über­raschende Erkenntnisse zutage. „In der Forschung ist man lange Zeit davon ausgegangen, dass die Rumpf­muskulatur bei der Ratte die größte Arbeit beim Klettern leistet. Wir haben fest­gestellt, dass die Leistung nur zu 15 Prozent aus dem Rumpf kommt. Die restlichen 85 Prozent übernehmen die Muskeln der Extremitäten“, erklärt Bio­mechatroniker Witte.

Deshalb hat auch der Roboter keinen Rumpf im eigentlichen Sinne des Wortes. Er besteht viel­mehr aus einem kleineren Vorder­körper und einem größeren hinteren Teil, die über eine bewegliche Wirbel­säule aus Aluminium­gestänge verbunden sind. Während die Greifer des Hinter­leibs sich an einem senkrechten Rohr festhalten, schiebt sich der Vorder­körper nach oben und klammert sich fest, bevor der hintere Teil nach­gezogen wird. In der Robotik bedeutete diese Kombination aus bionischen Funktions­prinzipien und der damit verbundenen Leicht­bau­weise einen echten Sprung. „Bevor wir mit dem Projekt angefangen haben, wog der leichteste Roboter auf dem Markt 35 Kilo­gramm“, sagt Hartmut Witte. Der „Ratnic“ dagegen bringt gerade mal 1,1 Kilo auf die Waage und braucht seinen Machern zufolge rund 75 Prozent weniger Energie als ein herkömmlicher Roboter.

Haftfähig wie ein Käferfuß

Auch eine kleine Roboter­raupe haben die Ilmenauer Bio­mechatroniker im Rahmen des Projektes gebaut. Dass sie schräge und glatte Flächen hochfahren kann, ohne dabei abzurutschen, verdankt die Raupe ihren Ketten. Die bestehen aus dem sogenannten Gecko-Tape, das der Biologe Prof. Dr. Stanislav Gorb entwickelt hat. Der Forscher der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) beschäftigt sich seit Jahren mit den Haft­mechanismen von Gecko, Spinne oder Käfer. Was diese Tiere gemeinsam haben: Sie benötigen keine Klebe­flüssig­keiten, um sicher an der Zimmer­decke zu spazieren. Statt­dessen sorgen Tausende von kleinen Haft­härchen an ihren Füßen für einen unfassbar starken Halt. Das Geheimnis hinter dieser Haftkraft sind Anziehungs­kräfte auf molekularer Ebene, die zwischen den Härchen und den Ober­flächen wirken. Pate für das Gecko-Tape standen die Haft­haare einiger spezieller Käferarten. Unter dem Mikroskop betrachtet sehen sie aus wie an der Spitze eingedellte Pilze. Sie arbeiten also ähnlich wie Saugnäpfe, was ihre molekulare Haft­wirkung weiter verstärkt.

Zusammen mit der auf Befestigungs­techniken spezialisierten Firma Gottlieb Binder haben die Kieler Forscher das Gecko-Tape auf den Markt gebracht. Der Vorteil des silikon­artigen Haft­stoffs: Er hält ebenso auf glatten, unebenen und rutschigen wie auf feuchten Ober­flächen, hinter­lässt dabei keine Rück­stände und ist anders als das klassische Klebe­band einfach abwasch­bar. Dadurch kann er beliebig oft wieder­verwendet werden. Selbst ein Mensch lässt sich mit dem Haft­material an der Decke aufhängen – wie die Forscher im Selbst­versuch demonstriert haben.

Spiderman bleibt vorerst Kino- und Comicheld

Wer nun darauf hofft, bald wie Spiderman über die Decke zu krabbeln, muss sich aber wohl noch weiter gedulden. „Je kleiner ein Lebe­wesen ist, umso besser kann es solche Effekte nutzen“, erklärt Bio­mechatroniker Hartmut Witte. Größere und schwerere Lebe­wesen benötigen dagegen über­proportional mehr Haft­härchen und eine stärkere Haft­kraft, um sich an einer Ober­fläche nicht nur halten, sondern auch lösen und wieder anheften zu können.

„Dass man sich in der Robotik auf nachgiebige Mechanismen eingelassen hat, führte dazu, dass die Idee der sogenannten ‚human-friendly robotics’ über­haupt erst ernst genommen und umgesetzt wurde.“

Hartmut Witte, Professor für Biomechatronik an der Technischen Universität Ilmenau

In Haushalt, Industrie oder im medizinischen Bereich könnte die Haftfolie jedoch schon sinnvoll eingesetzt werden. Und auch bei den kleinen Robotern hält das Gecko-Tape, was es verspricht. Ursprünglich war angedacht, die Roboter­raupe aus Ilmenau bei der Reinigung von Solar­dächern einzusetzen. „Eigentlich waren wir uns mit einer Hersteller­firma von Solar­panelen bereits einig“, erzählt Witte. Doch dann ging die Firma pleite, und der Plan musste erst einmal auf Eis gelegt werden. Ein Problem, das den Wissenschaftlern immer wieder begegnet. Universitäten verfügen zumeist nicht über das Geld und das Personal, um einen Roboter serien­reif zu machen. Sie entwickeln Ideen und setzen Impulse – die von der Industrie auf­genommen werden müssen. Bricht ein Projekt­partner weg, kann es passieren, dass eine viel­versprechende Idee zunächst wieder in der Schublade verschwindet. Doch selbst wenn einige bionische Projekte noch auf ihren kommerziellen Durch­bruch warten, haben sie die Geschichte der Robotik bereits auf vielen Ebenen voran­gebracht, meint Hartmut Witte. Angefangen bei der Leicht­bau­weise, also der Entwicklung von Materialien, die sich an der leichten und stabilen Knochen­struktur oder eben an den Haft­techniken kleiner Lebe­wesen orientieren, bis hin zur Verwendung nach­giebiger Systeme, wie sie etwa beim Elefanten­rüssel von Festo zum Einsatz kommen. Die Konstruktion der sogenannten Cobots – kollaborativer Roboter, die Hand in Hand mit dem Menschen zusammen­arbeiten sollen – wäre ohne die bionischen Projekte so nie möglich gewesen. „Dass man sich in der Robotik auf nachgiebige Mechanismen eingelassen hat, führte dazu, dass die Idee der sogenannten ‚human-friendly robotics’ über­haupt erst ernst genommen und umgesetzt wurde“, so Witte.

Echtzeit für Exoskelette

Bei dem jüngsten Projekt der Ilmenauer Bioniker geht es eben­falls um ein robotisches System, das mit dem Menschen hautnah zusammen­arbeitet: Sie entwickeln Leviaktor – ein Exoskelett, das Arbeits­kräften in Industrie und Handwerk unter die Arme greifen soll. Völlig neu sind solche elektronischen oder mechanischen Hebe­hilfen freilich nicht. Sie unter­stützen Menschen schon heute dabei, nach Unfällen wieder laufen zu lernen, oder Arbeiter in der Industrie beim Heben schwerer Gegen­stände. Doch das Zusammen­spiel zwischen Mensch und Maschine verläuft noch nicht ganz reibungs­los.

Einzelne Exoskelette sind für eine bestimmte Anwendung eingerichtet oder an eine einzige Person angepasst. Will sie also ein anderer Mensch für einen anderen Zweck nutzen, wird es tendenziell schwierig, so Witte. „Die heutigen Exoskelette sind alle reaktiv“, sagt der Bio­mechatroniker. Sprich: Sie registrieren, dass der Nutzer in eine entsprechende Richtung drückt, und folgen dieser dann mit kleiner Verzögerung. Der Lösungs­ansatz der Bioniker: Sie messen die Aktivität der Arm­muskulatur, um darüber die Unterstützungs­bewegung der elektronischen Hebehilfe zu steuern. „Muskel­physiologen haben nach­gewiesen, dass man der elektrischen Aktivität auf den Nerven bereits ansehen kann, was der Muskel mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung demnächst machen wird“, erklärt Witte. Durch die Messung und Auswertung der sogenannten EMG-Signale könnte das Exo­skelett die Bewegungen des Menschen antizipieren, statt wie bislang nur darauf zu reagieren.

„Wenn ich technische Lösungen bekomme, dann sollen die mich nicht zusätzlich belasten, sondern müssen einfach zu mir passen.“

Hartmut Witte, Professor für Biomechatronik an der Technischen Universität Ilmenau

In einem auf drei Jahre angelegten Projekt, das vom Bundes­forschungs­ministerium mit rund 1,5 Millionen Euro gefördert wird, wollen die Wissen­schaftler nun nach­weisen, dass dieses Verfahren sich auch in der Praxis bewähren kann. Das Ziel dahinter: größtmögliche „Biokompatibilität“, wie Hartmut Witte es formuliert. „Wenn ich schon technische Lösungen bekomme, dann sollen die mich nicht zusätzlich belasten, sondern müssen einfach zu mir passen.“ Denn auch das ist für Witte ein zentrales Anliegen der Bionik: Technik so zu denken und zu entwickeln, dass sie sich auf uns Menschen einstellt – und wir uns nicht länger der Technik anpassen müssen.

ZUR PERSON

Hartmut Witte ist Professor für Biomechatronik an der Technischen Universität Ilmenau. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen und den Studierenden beschäftigt sich der Maschinen­bau­ingenieur und Fach­arzt für Anatomie hier mit der Frage, wie technische Systeme unter Nutzung von biologischem und medizinischem Wissen entwickelt und optimiert werden können.