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wütender Autofahrer
Verkehrspsychologie

„Wir nehmen Konflikte im Straßenverkehr zu persönlich“

21. November 2019

Jemand nimmt uns die Vorfahrt, ein anderer überholt uns rechts, und an der Ampel müssen wir erneut warten, weil der Vorder­mann die Grün­phase verschlafen hat. Kaum ein Bereich unseres Lebens ist so konflikt­trächtig wie der Straßen­verkehr. Warum wir gerade im Auto so oft wütend werden, wie man mit dem eigenen Frust und dem Ärger der anderen umgeht und wieso wir Konflikte im Straßen­verkehr viel zu persönlich nehmen, das erklärt Christian Müller, Verkehrs­psychologe bei TÜV NORD.

#explore: Was sind die zentralen Themen und Fragen, mit denen man sich als Verkehrs­psychologe beschäftigt?
Christian Müller: Hauptthema als Verkehrs­psychologe ist das Verhalten der am Straßen­verkehr teilnehmenden Personen. Wir haben es mit Rad­fahrern, Lok­führern, Bus- oder Taxi­fahrern zu tun, aber der weitaus größte Teil sind Auto­fahrer – und hier vor allem diejenigen, die mit ihrem Fahr­verhalten auffällig geworden sind. Um die anderen muss man sich meistens nicht kümmern.

Warum werden wir beim Autofahren oft so wütend?
Tatsächlich gibt es gewisse Rahmen­bedingungen, die es nahezu allen Verkehrs­teil­nehmern schwerer machen, sich angemessen zu verhalten. Im Auto befinden wir uns ja in einem abgeschlossenen Käfig und können uns nur eingeschränkt verständigen: Die Entschuldigung eines anderen ist da schnell übersehen. Hand­zeichen oder Licht­hupe können als Hinweis ebenso wie als Nötigung interpretiert werden. Es gibt also ein großes Potenzial für kommunikative Miss­verständnisse, und das Medium der Sprache, um solche Geschehnisse klären zu können, entfällt dabei. Und viel zu oft deuten wir Situationen im Straßen­verkehr als vorsätzliche Handlung und nehmen sie persönlich: Jemand nimmt mir etwas weg, und das kann ich nicht so stehen lassen. Das ist natürlich höchst irrational. Da begegnen sich millionenfach fremde Menschen im Straßen­verkehr, die glauben, dass das Verhalten des anderen irgendetwas mit ihnen zu tun hat.

„Viel zu oft deuten wir Situationen im Straßenverkehr als vorsätzliche Handlung und nehmen sie persönlich.“

Christian Müller, Verkehrs­psychologe

Warum nehmen wir Situationen im Straßen­verkehr denn zu persönlich?
Weil wir es in gewisser Weise nicht anders gelernt haben. Unsere Art der Sozialisation sieht vor, mit anderen Menschen in persönlichem Kontakt zu stehen – vom Elternhaus über den Kinder­garten bis hin zur Schule. Das über­tragen wir automatisch auf den Straßen­verkehr. Hier bewegen wir uns aller­dings in einem künstlich geschaffenen Rahmen, der tatsächlich unpersönlich ist.

Wieso können Frust und Ärger gerade im Auto auch leicht in Aggression umschlagen?
Im Auto bewegen wir uns zwar in der Öffentlichkeit, fühlen uns aber zugleich geschützt durch das Fahr­zeug­gehäuse und eine gewisse Anonymität. Das kann dafür sorgen, dass Hemmungen nicht so wirksam sind wie im Alltag. Dass man also Dinge tut, die man sich nicht trauen würde, wenn man dem anderen direkt gegen­über­stünde. Ein Fehlverhalten hat zudem oft keine Konsequenzen: Beleidigungen oder Nötigungen wie dichtes Auffahren oder Ausbremsen werden nur in den seltensten Fällen angezeigt. Verkehrs­sünder können also ihre Impulse ausagieren – Dampf ablassen und die anderen „in ihre Schranken weisen“ –, ohne dafür Sanktionen zu erfahren. Das führt dazu, dass sie sich in ihrem Verhalten bestärkt fühlen.

Wie sollte man mit der eigenen Wut im Straßenverkehr umgehen?
Im Auto vor sich hin zu fluchen ist weitest­gehend unschädlich – das muss ich nicht unbedingt abstellen. Wenn ich aber feststelle, dass diese Emotionen mein Fahr­verhalten beeinflussen, indem ich etwa das Tempo erhöhe oder zu dicht auffahre, kann es in einem ersten Schritt helfen, sich die Irrationalität der Verärgerung bewusst zu machen. Also dass der andere mir wahrscheinlich nicht vorsätzlich die Vorfahrt genommen hat. Ertappe ich mich dabei, jemanden an einer unübersichtlichen Stelle zu überholen, weil der sich „frecher­weise“ vor mir in die Spur geschoben hat, gefährde ich mich und andere. Wenn das häufiger vorkommt und ich es nicht abstellen kann, sollte ich mir Gedanken über die Ursachen machen und mir Unterstützung suchen. Das muss aber nicht direkt der Gang zum Psychologen sein. Oft hilft es schon, Entspannungs­techniken zu erlernen. Denn wie ich mich im Verkehr verhalte, hat oft auch damit zu tun, wie dicht ich an meiner persönlichen Belastungs­grenze bin. Sorge ich in meinem Alltag für Entspannung, kann ich mit Frustrationen besser umgehen.

Wie kann ich konkret für mehr Entspannung sorgen?
Das kann ein Yoga-Kurs sein oder autogenes Training. Einfache Atem­techniken kann ich mir auch über das Internet aneignen. Und die kann man dann im Auto praktizieren. Das berühmte „erst mal tief durchatmen“ hilft dabei, die Wut hinterm Steuer abzubauen. Da konzentriert man sich zehn Sekunden auf seinen Atem, ohne den Verkehr aus den Augen zu lassen – und schon ist man raus aus dieser Aggressions­spirale. Wenn es aller­dings schon öfter zu ernsthaften Konflikten im Straßen­verkehr gekommen ist und man das sogar mit solchen Techniken nicht in den Griff bekommt, sollte man sich tatsächlich in die Hände eines Psycho­therapeuten begeben. Und das möglichst bevor der Führerschein entzogen wurde oder der Unfall passiert ist. Das gilt natürlich vor allem für die „schweren“ Fälle. Üblicher­weise habe ich dann schon von Freunden und Verwandten, aber auch von der Polizei und den Verkehrs­behörden deutliche Hinweise bekommen, dass mein Fahr­verhalten nicht in Ordnung ist.

Wie gehe ich mit Beleidigungen durch andere Verkehrs­teil­nehmer um?
Man sollte sich grundsätzlich nicht provozieren lassen. Als Verkehrs­psychologe habe ich ja gerade auch mit den Fällen zu tun, in denen ein Konflikt, zum Beispiel bei der Park­platz­suche, mit einer gefährlichen Körper­verletzung endet. Und das extremste Fehl­verhalten ergibt sich erfahrungs­gemäß aus der Spirale gegen­seitiger Provokationen. Wenn man auf eine Beleidigung ebenfalls mit einer Beleidigung reagiert und Pech hat, gerät man an eine Person mit einer massiv gestörten Impuls­kontrolle. Da wird man vielleicht ausgebremst oder an der nächsten Ampel bedroht oder angegriffen. Das sind natürlich die außer­gewöhnlichsten Fälle. Daher gilt hier: Der Klügere gibt nach. Denn wenn es eskaliert, verlieren hinterher immer beide. Dabei geht es natürlich nicht darum, Verkehrs­rowdys alles durch­gehen zu lassen. Eindeutiges und schweres Fehlverhalten wie etwa Ausbremsen auf der Autobahn kann und sollte man zur Anzeige bringen. Auch um einen Wiederholungs­auffälligen möglichst früh aus dem Verkehr zu ziehen, damit er nicht über Jahre hinweg andere Verkehrs­teilnehmer gefährden kann.

„Rüde Gesten, wie einen Vogel zu zeigen oder den Stinkefinger oder aber Beleidigungen ins Autofenster zu brüllen, sollte man sich in jedem Fall verkneifen.“

Christian Müller, Verkehrs­psychologe

Gerade im Stadtverkehr fühlt man sich oft versucht, andere verbal oder mit Gesten über ihre Fehler zu belehren – etwa, wenn ein Autofahrer auf dem Radweg hält, auf dem man gerade fährt. Wie sinnvoll ist eine solche Form der „Pädagogik“?
Der Glaube, jemanden durch Handzeichen oder Unmuts­äußerungen belehren zu können, ist ebenfalls höchst irrational. Sicher gibt es immer wieder Situationen, in denen jemand etwas übersehen hat und das durch ein entsprechendes Zeichen oder einen Zuruf auch erkennt. Oft gibt es in Verkehrs­situationen aber unter­schiedliche Sicht­weisen, und dann wird sich der andere kaum belehren lassen. Zudem gibt es genügend Personen, die es nicht einsehen wollen, selbst wenn sie sich vorher falsch verhalten haben, und eine Beleidigung zum Beispiel erst recht nicht hinnehmen. Dem eigenen Schrecken etwa mit Kopf­schütteln Ausdruck zu verleihen oder weniger provokante Zurufe wie „Das ist ein Fahr­rad­weg“ sind sicher verhältnis­mäßig akzeptabel. Rüde Gesten, wie einen Vogel zu zeigen oder den Stinkefinger oder aber Beleidigungen ins Auto­fenster zu brüllen, sollte man sich in jedem Fall verkneifen.

Immer mehr Eltern fahren heute ihre Kinder zur Schule. Sorgt das tatsächlich für mehr Sicherheit, oder bleibt dabei die Verkehrs­kompetenz auf der Strecke?
Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, weil immer auch sehr individuelle Faktoren eine Rolle spielen: Es gibt gefährliche und weniger gefährliche Strecken, gleichaltrige Kinder sind in ihrer Entwicklung unterschiedlich weit fort­geschritten. Problematisch sind natürlich Situationen, wie man sie immer öfter in unmittelbarer Schul­nähe beobachten kann. Wenn Eltern selbst zu schnell fahren, weil sie ihr Kind noch rasch vor Arbeits­beginn abliefern wollen, oder wenn viele haltende Autos für ein Verkehrs­chaos sorgen. Das dient weder der Verkehrs­sicherheit noch ist es umwelt­politisch sinnvoll. Alternativ können Nachbars­kinder gerade bei Fußwegen von etwa 15 Minuten Lauf­gemeinschaften bilden – am besten gemeinsam mit älteren Schulkindern oder in Begleitung eines Erwachsenen. Wenn das abwechselnd von jeweils einem Elternteil über­nommen wird, ist es für alle eine sichere und praktikable Lösung. Letztlich geht es aber natürlich darum, das Kind angepasst an seinen Entwicklungs­stand zu befähigen, den Schulweg auch alleine zu meistern.

Haben sich unsere Eltern oder Großeltern anders durch den städtischen Straßen­verkehr bewegt als heutige Kinder­generationen?
Hier sind zwei Entwicklungen zu beobachten: Tatsächlich hat der innerstädtische Straßen­verkehr in den vergangenen Jahr­zehnten zugenommen, womit sich auch das Gefährdungs­potenzial erhöht hat. Zugleich trauen viele Eltern ihren Kindern heute weniger zu und zeigen eine extreme Fürsorge, die es in dieser Form vor 20 Jahren nicht gegeben hat. Natürlich will man Leben und Gesundheit des eigenen Kindes best­möglich schützen. Wer aber glaubt, jede Situation kontrollieren und jede Gefahren­quelle eliminieren zu können, muss zwangsläufig scheitern. Über­triebene Fürsorge erzieht zur Unselbst­ständigkeit. Die Stärkung der Eigen­verantwortlichkeit von Kindern oder Jugendlichen trägt dagegen dazu bei, dass sie sich sicherer im Straßen­verkehr bewegen.

Mit dem Start in die dunkle Jahreszeit stehen nun auch wieder die Weihnachts­feiern vor der Tür. Oft stellt sich danach die Frage: Fahre ich noch, oder fahre ich nicht? Wie kommt man (verkehrs-)sicher von der Feier nach Hause?
Wenn ich voraussichtlich auf der Weihnachts­feier Alkohol trinken werde, ist die sicherste Variante, gar nicht erst mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. So habe ich bereits das Risiko ausgeschaltet, mich im angetrunkenen Zustand doch hinter das Steuer zu setzen, weil etwa gerade kein Taxi zu haben ist oder der nächste Bus erst in einer halben Stunde kommt. Das A und O ist, den Hin- und Rückweg vorher zu planen: Zur Arbeit nehme ich beispiels­weise die öffentlichen Verkehrs­mittel, nach der Feier kann mich vielleicht mein Partner abholen, ich bestelle mir ein Taxi vor oder stimme mich im Vorfeld mit den Kollegen ab. Häufig ist jemand dabei, der keinen Alkohol trinkt und eine Fahr­gemeinschaft als Fahrer unterstützen würde. Ganz wichtig: keine anderen Fahrzeuge als Alternative zum Auto wählen, um alkoholisiert zurück­zu­kommen. Weder das Fahrrad noch einen E-Scooter, wie man sie in Großstädten mittlerweile an jeder Ecke findet. Im alkoholisierten Zustand sind Gleichgewichtssinn und Reaktions­vermögen stark beeinträchtigt – somit gefährde ich mich und andere. Und juristisch gesehen ist ein E-Scooter ein elektrisches Kraft­fahr­zeug. Es gelten also die gleichen Promille­grenzen wie beim Autofahren. Auf dem Oktober­fest in München wurde jüngst rund 250 E-Scooter-Fahrern der Führerschein entzogen.

ZUR PERSON

Christian Müller ist Verkehrs­psychologe und Leiter des medizinisch-psychologischen Instituts von TÜV NORD im Rheinland. Seit seiner Diplom­arbeit an der Universität Bonn vor 23 Jahren arbeitet Müller daran, die Verkehrs­sicher­heit für alle Beteiligten zu erhöhen: „Man muss dabei immer auch den Menschen hinter dem Verkehrs­rowdy sehen. Denn selbst ein Mensch mit einer Vor­geschichte aus Gewalt oder Drogen kann mit Hilfe zu einem stabilen Verhalten finden und auch wieder ein sicherer Verkehrs­teil­nehmer werden.“ Hier erklärt Christian Müller das „Gaffer-Phänomen“ bei Auto­unfällen nach psychologischen Gesichts­punkten.