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Portrait Katja Urbatsch
Steckbrief

Katja Urbatsch: Die Studienhelferin für Arbeiterkinder

07. November 2019

Für den Nachwuchs von Akademikern ist der Ausbildungs­weg in den meisten Fällen klar: Fast alle führt der Weg zur Uni. Bei Nicht­akademikern dagegen schafft es nicht einmal jedes dritte Kind an eine Hoch­schule. Katja Urbatsch kennt die Hürde, als Erste in der Familie ein Studium auf­zu­nehmen und ab­zu­schließen, aus eigener Erfahrung. Ihre persönlichen Studien­erlebnisse motivierten sie 2008 zur Gründung von ArbeiterKind.de. Aus dem Online­projekt hat sich mittler­weile ein deutschland­weites Netz­werk von Ehren­amtlichen entwickelt, die Kinder aus Nicht­akademiker­familien bis zum Bachelor- und Master­abschluss begleiten.

Name:
Katja Urbatsch

Alter:
40

Beruf:
Sozialunternehmerin, Gründerin und Geschäfts­führerin von ArbeiterKind.de

Website:
www.arbeiterkind.de

Was ist ArbeiterKind.de?
ArbeiterKind.de ist die bundes­weit größte gemein­nützige Organisation zur Unter­stützung Studierender der ersten Generation. Das Ziel von ArbeiterKind.de ist, dass jeder Mensch unabhängig von seiner sozialen Herkunft den Bildungs­auf­stieg schaffen kann, wenn er die Fähig­keiten dazu mitbringt.

Wie ist die Idee entstanden?
Ich bin selbst die Erste in meiner Familie, die einen akademischen Abschluss erlangt hat. Als ich anfing zu studieren, fühlte ich mich häufig, als wäre ich nicht am richtigen Ort. Mir wurde nach und nach bewusst, dass es einen Unter­schied zwischen Studierenden wie mir, deren Eltern nicht studiert haben, und Akademiker­kindern gibt. Ein Schlüssel­erlebnis hatte ich, als es darum ging, die erste Haus­arbeit zu schreiben. Ich fragte eine Kommilitonin um Rat, denn ich wusste nicht, wie so etwas aus­sehen sollte. Sie sagte daraufhin, dass ihr Vater ihr beim Schreiben der Haus­arbeit geholfen hätte. Ich hatte niemanden im familiären Umfeld, der mich dabei hätte unter­stützen können. So kam ich 2008 auf die Idee, ein Internet­portal zu gründen, das Informationen speziell für Studierende aus Familien ohne Hoch­schul­tradition bereithält. Mittler­weile ist daraus eine Organisation mit 6.000 Ehren­amtlichen geworden, die sich bundes­weit in lokalen Gruppen engagieren.

„Bei Nichtakademikerfamilien schaffen gerade einmal 27 von 100 Kindern den Sprung an eine Hochschule.“

Katja Urbatsch, Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de

Die Welt braucht ArbeiterKind.de, weil …
… immer noch die Herkunft über den Bildungs­weg bestimmt. Von 100 Kindern aus Akademiker­familien beginnen statistisch betrachtet 79 ein Hoch­schul­studium. Bei Nicht­akademiker­familien schaffen gerade einmal 27 von 100 Kindern den Sprung an eine Hochschule, wie eine aktuelle Unter­suchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissen­schafts­forschung (DZHW) zur Hoch­schul­beteiligung in Deutschland ergab, die am 7. Mai 2018 veröffentlicht wurde. Noch immer studieren Kinder von Akademikern drei­mal häufiger als Kinder, deren Eltern nicht an einer Hochschule waren.

Ursprünglich ist ArbeiterKind.de als reine Online­platt­form gestartet, hat sich aber bald zu einem analogen Netz­werk von Ehren­amtlichen entwickelt. Wie hat sich das ergeben?
ArbeiterKind.de hat über die Online­platt­form seit dem Start in kurzer Zeit eine große Community aufgebaut. Im Online­netz­werk von ArbeiterKind.de sind über 14.000 Menschen registriert, die schnell und direkt helfen können. Doch die Rat­suchenden hatten auch das Bedürfnis nach persönlichen Ansprech­partnerinnen und -partnern vor Ort. Außer­dem leben die lokalen Gruppen­aktivitäten vom persönlichen Kontakt und ermöglichen es, beispiels­weise Schul­besuche zu organisieren. Die Ehren­amtlichen haben sich gerne vernetzt und ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus­getauscht. So ist das persönliche Netz­werk bundes­weit auf 80 Gruppen gewachsen.

Wie sieht die Unterstützung konkret aus?
Die Ehrenamtlichen von ArbeiterKind.de bieten in den lokalen Gruppen Hilfe­stellung vor Ort an. Sie halten Sprech­stunden ab, organisieren regel­mäßige offene Treffen und informieren bei Besuchen in Schulen und auf Messen und Hoch­schul­veranstaltungen. Die Ehren­amtlichen sind in der Regel selbst die Ersten in ihrer Familie, die studieren oder studiert haben, und ermutigen durch ihre eigene Bildungs­geschichte. Sie können durch ihre Vor­bild­funktion besonders authentisch helfen. Die Fragen der Rat­suchenden betreffen alle Facetten eines Studiums, die Studien­organisation und die Studien­finanzierung. ArbeiterKind.de unter­stützt bis hin zum Berufs­ein­stieg, da Nicht­akademiker­kinder im Gegen­satz zu Akademiker­kindern nicht auf ein familiäres Netz­werk zurück­greifen können, das beim Über­gang ins Berufs­leben Türen öffnet. Auch auf der Website sind viele wichtige Informationen verständlich auf­bereitet. Außer­dem ist ein Info­telefon vier Tage in der Woche geschaltet. Die bereits erwähnte Online-Community hilft mit ihren ehren­amtlichen Unter­stützern unbüro­kratisch und schnell.

ArbeiterKind.de gibt es mittlerweile seit elf Jahren. Hat sich gesellschaftlich seitdem etwas verändert?
Das Thema Bildung ist nicht zuletzt seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 in Bewegung geraten. Das Schul­system wurde reformiert, die strenge dreigliedrige Schul­systematik flexibler und durch­lässiger gestaltet. Es wurden Gesamt­schulen, Gemein­schafts­schulen oder integrierte Sekundar­schulen eingeführt, die eine Entscheidung für die Hoch­schul­reife auch noch zu einem späteren Zeit­punkt erlauben. An den Hoch­schulen gibt es differenziertere Zugangs­wege – beispiels­weise ist auch ohne Hoch­schul­reife ein Studium möglich, wenn bestimmte Vor­aus­setzungen gegeben sind. Insgesamt hat sich einiges verbessert, dennoch ist es heut­zu­tage schwer, den Bildungs­auf­stieg zu meistern. Es hängt immer noch häufig von Zufällen und von persönlichen Unter­stützern ab, wie der Bildungs­weg verläuft.

„Die ungeklärte Finanzierung hält viele junge Menschen davon ab, sich für ein Studium zu entscheiden.“

Katja Urbatsch, Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de

Was sind heute noch die größten Hürden, um als Erste oder Erster in der Familie ein Studium auf­zu­nehmen?
Viele Menschen aus Familien ohne Hoch­schul­tradition trauen sich ein Studium nicht zu, wissen nicht genau, was da auf sie zukommt, wie ein Studium aufgebaut ist und was wissenschaftliches Arbeiten bedeutet. Das eigene soziale Umfeld hat keine Erfahrung und kann nicht bei Fragen unterstützen. Auch die ungeklärte Finanzierung hält viele junge Menschen davon ab, sich für ein Studium zu entscheiden. Finanzierungs­möglich­keiten wie BAföG oder Stipendien sind zu wenig bekannt. Man möchte sich nicht verschulden, sondern in der Regel schnell einen Beruf ergreifen und Geld verdienen.

Welches digitale Produkt muss erst noch erfunden werden?
Der Mut­verstärker für Jugendliche, der sie dabei unter­stützt, ihr Potenzial zu entfalten.

Auf welches könnten Sie verzichten?
Smartuhren finde ich etwas über­trieben. Mir reichen Handy und Laptop.

Welche technische Anwendung wird Ihnen immer ein Rätsel bleiben?
Die Warte­schleifen von Service­hotlines.

Ohne welche vier Apps kommen Sie nicht durch den Tag?
Morgens schaue ich erst mal auf die Wetter-App und beim Frühstück auf Spiegel Online. Ich bin für ArbeiterKind.de viel unter­wegs, daher ist DB Navigator mein treuer Begleiter, und ich nutze die App coach.me, um einige Verhaltens­weisen auf dem Schirm zu haben, etwa zu meditieren, zum Sport zu gehen oder lange genug zu schlafen.

Wann waren Sie das letzte Mal 24 Stunden offline?
Oh, gute Frage. Ich fürchte, bevor ich ein Smart­phone mit Internet hatte.

Urlaub ohne WLAN: Traum oder Albtraum?
Weder noch, aber ich nutze das Internet in meiner Freizeit für geführte Meditationen oder zum Herunter­laden von Büchern. Daher habe ich gerne WLAN. Wichtig ist mir eher die Unter­scheidung zwischen Arbeit und Freizeit.

Im #explore-Format „Steckbrief“ kommen regelmäßig spannende und inspirierende Menschen aus der digitalen Szene zu Wort: Forscher*innen, Blogger*innen, Start-up-Gründer*innen, Unternehmer*innen, Hacker*innen, Visionäre und Visionärinnen.