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Bahnverkehr

Polyglott im Führerstand

17. August 2023

Im Auto durch die EU zu fahren ist eine einfache Sache. Für den Zugverkehr ist der Grenzübertritt dagegen ungleich komplizierter. Unterschiedliche Spurweiten, Stromspannungen, Signal- und Zugsicherungssysteme sind einige der großen Hürden, die es bei der Fahrt ins Nachbarland zu überwinden gilt. Züge müssen dafür einiges mitbringen und auch Lokführerinnen und Lokführer andere Systeme und Sprachen beherrschen.

 

Ob von Niebüll nach Tønder, von Trier nach Luxemburg oder von Saarbrücken nach Sarreguemines: Aus Deutschland gelangt man von einigen Orten mit Nahverkehrszügen ins jeweilige Nachbarland. Noch schneller und weiter geht es mit dem Thalys von Frankreich nach Deutschland oder eben in die Gegenrichtung. Bei eingleisigen Verbindungen wie der zwischen Deutschland und Dänemark fallen die Eigenarten des jeweiligen Bahnsystems nicht sonderlich ins Gewicht. Doch schon bei zweigleisigen Strecken stellt sich die Gretchenfrage: Links- oder Rechtsverkehr? Denn während auf der Straße Rechtsverkehr die Regel und Linksverkehr die Ausnahme ist und es vor allem in jedem Land eine einheitliche Regelung gibt, sieht das auf der Schiene anders aus. In Deutschland, Dänemark, Spanien und den Niederlanden beispielsweise wird rechts gefahren, in Frankreich, Schweden, Belgien und Italien dagegen links. In einigen Ländern kommt es sogar auf die jeweilige Strecke an: So kann es in Österreich, Polen und Griechenland mal links, mal rechts entlanggehen. Im grenzüberschreitenden Verkehr kommen daher vorzugsweise Loks zum Einsatz, bei denen die Instrumente im Führerhaus nicht seitlich angeordnet sind, sondern mittig. Lokführerinnen und Lokführer sitzen also zentral und haben so alle Streckensignale gut im Blick – unabhängig davon, ob sie wie in Deutschland rechts oder wie in Frankreich links von der Schiene stehen.

 

Lost in translation?

Freie Sicht aufs Signal reicht dabei jedoch nicht aus: Die Triebwagenführenden müssen sie außerdem lesen können. Denn während man sich beim Straßenverkehr im Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen von 1968 darauf verständigt hat, dass Schilder und andere Verkehrszeichen international möglichst einheitlich und damit verständlich sein müssen, gibt es eine solche Regelung beim Schienenverkehr nicht. Selbst in Deutschland sind teils unterschiedliche Signalsysteme in Betrieb; das gilt umso mehr auf grenzüberschreitenden Strecken. Deutsche Lokführerinnen und Lokführer, die auf der Schiene nach Frankreich fahren wollen, müssen daher eine sechsmonatige Zusatzausbildung absolvieren, um sich mit den Eigenarten des frankofonen Eisenbahnbetriebs vertraut zu machen.

Überhaupt sind Lokführerinnen und Lokführer auch sprachlich gefordert. Im Luftverkehr ist die Sache ganz einfach: Auf Englisch kann man sich immer verständigen. Im Zugverkehr wird dagegen in der jeweiligen Landessprache kommuniziert. Die Triebwagenführenden müssen sich sowohl im Routinebetrieb als auch in schwierigen oder gar kritischen Situationen verständigen und dem Funkverkehr problemlos folgen können. Um den Führerschein für das jeweilige Land zu erhalten, müssen sie daher Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 nachweisen – das Level, das man hierzulande auch für eine Einbürgerung beherrschen muss.

 

Spannungen in Europa

Flexibilität und „Übersetzungskompetenz“ sind dabei auch bei den Schienenfahrzeugen für den Grenzverkehr gefragt. Die Züge werden in Deutschland, Belgien, Frankreich und den Niederlanden mit unterschiedlicher Spannung gespeist. Der Thalys, der durch all diese Länder fährt, muss daher aus all diesen unterschiedlichen Systemen die Energie für seinen Antrieb beziehen können. Als sogenanntes Viersystemfahrzeug kommt er mit sämtlichen Bahnstromsystemen in Europa zurecht – ausgenommen Südengland, wo er aber ohnehin nicht auf dem Fahrplan steht.

Doch nur weil ein Zug die unterschiedlichen Spannungssysteme nutzen kann, heißt das noch nicht, dass er tatsächlich grenzüberschreitend fahren darf. Denn dazu muss er auch auf das Zugsicherungssystem im jeweiligen Gastland ausgelegt sein. Und von denen gibt es in Europa sage und schreibe 20 Stück. Ein Flickenteppich unterschiedlicher Systeme, die miteinander nicht kompatibel sind.

 

ETCS für die Einheitlichkeit

Hoffnung auf ein Ende der babylonischen Zugleitsystemverwirrung gibt das europäische Zugkontrollsystem, kurz ETCS. Es wurde entwickelt, um ein einheitliches europäisches Zugleit- und Sicherungssystem zu schaffen und so den grenzüberschreitenden Verkehr zu erleichtern. Ein weiterer Vorteil: Dank der Technologie können Züge in kurzen Abständen auf derselben Strecke fahren. Auf einer Strecke können also gleichzeitig mehr Züge und damit mehr Passagierinnen und Passagiere unterwegs sein. Eine Ablösung der bisherigen Zugsicherungssysteme ist in Deutschland allerdings langfristig angelegt und auch nur für die überregionalen Strecken geplant. Ohnehin geht der Ausbau hierzulande schleppend voran: Nach Angaben der Deutschen Bahn werden bis Ende dieses Jahres insgesamt 610 Netzkilometer mit ETCS ausgerüstet sein. Ursprünglich waren bis zu diesem Zeitpunkt gut 2.700 Kilometer geplant.

Die Netze in Luxemburg sind dagegen bereits praktisch vollständig auf ETCS umgestellt. Das gilt ebenso für das Normalspurnetz in der Schweiz, das fast 80 Prozent des Schienennetzes in der Eidgenossenschaft ausmacht. Belgien, Dänemark, die Niederlande und Israel haben die flächendeckende Ausrüstung ihrer Bestandsnetze mit ETCS bereits beschlossen.

Bis sich ETCS tatsächlich in der Breite durchgesetzt hat, müssen die Hersteller und die Bahnbetreiber für den grenzüberschreitenden Verkehr nach wie vor auf Züge setzen, die mit den unterschiedlichen Systemen zurechtkommen. Und Lokführerinnen und Lokführer müssen vorerst weiterhin landesspezifische Regeln und Signale büffeln.

 

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