17. Januar 2019
Wer einmal im Gefängnis saß, der hat oft schlechte Karten, nach der Entlassung eine Arbeitsstelle zu finden. Doch wer keine Arbeit und keine Perspektive hat, der wird auch schneller rückfällig. Integrationsbegleiterinnen wie Sylvia Rösch von TÜV NORD Bildung helfen beim Weg in den Beruf und in ein straffreies Leben.
Wenn bei den Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Neumünster der Termin zur Entlassung näher rückt, dann ist für viele von ihnen Sylvia Rösch eine der ersten Adressen. Denn sie arbeitet als Integrationsbegleiterin. „Ich unterstütze die Inhaftierten dabei, einen Arbeitsplatz oder eine Ausbildungsstelle zu finden“, erklärt sie ihre Tätigkeit. Rund ein Jahr lang betreut Sylvia Rösch die Inhaftierten: sechs Monate vor und sechs Monate nach der Entlassung. Gemeinsam mit ihnen entwickelt sie Strategien für die berufliche Zukunft, steht ihnen bei Bewerbungsanschreiben zur Seite, coacht sie und begleitet sie zu Vorstellungsgesprächen und hilft ihnen im Umgang mit Behörden wie dem Arbeitsamt oder dem Jobcenter. Da in Neumünster auch Jugendliche inhaftiert sind, die oft noch keine abgeschlossene Ausbildung haben, hilft sie außerdem bei der beruflichen Orientierung. In Gesprächen arbeitet sie mit den jungen Strafgefangenen deren Interessen und Kompetenzen heraus, untersucht aber ebenso die Gründe, warum sie an vorherigen Arbeitsstellen oder Ausbildungsstätten ausgeschieden sind. Die zentrale Frage nach jeder ersten Sitzung, die den gesamten Integrationsprozess beeinflussen wird, lautet: „Was kann ich tun und was können Sie tun, um draußen nicht mehr rückfällig zu werden?“
Wer Arbeit hat, wird seltener wieder straffällig
Je früher Menschen nach ihrer Entlassung eine dauerhafte Arbeits- oder Ausbildungsstelle finden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, erneut eine Straftat zu begehen: Das hat der Kriminologische Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen (KrimD NRW) in einer Studie belegt. Bei Jugendlichen ist das Rückfallrisiko gerade in den ersten Monaten nach dem Vollzug besonders hoch – eine Tragödie für den einzelnen Menschen und für die gesamte Gesellschaft. Um zu verhindern, dass Strafgefangene in der wiedergewonnenen Freiheit ins Loch der Perspektivlosigkeit fallen, hat etwa das Land Schleswig-Holstein Programme zum Übergangsmanagement aus der Taufe gehoben. In möglichst engmaschiger Begleitung werden hier die Inhaftierten dabei unterstützt, den Sprung aus dem streng reglementierten Tagesablauf einer Justizvollzugsanstalt in einen ungewissen Alltag zu bewältigen. Auf diese Weise wird eines der wichtigsten Ziele des Strafvollzugsgesetzes umgesetzt. „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Inhaftierte fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, erklärt Sylvia Rösch. Als Integrationsbegleiter arbeiten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen von TÜV NORD Bildung in Justizvollzugsanstalten in Kiel, Lübeck oder eben Neumünster, in denen sich Jugendliche oder Erwachsene schon zum Tischler, Maurer oder Maler ausbilden lassen können.
Die erste Station im Berufsleben
Für Sylvia Rösch beginnt der erste Schritt zu diesem Übergang mit der Überarbeitung des Lebenslaufs. „Für viele Jugendliche, die hier einsitzen, ist es der erste ihres Lebens“, erzählt die studierte Psychologin. Oft fehlen Schul- oder Arbeitszeugnisse. „Viele der Jugendlichen können sich nicht vorstellen, dass etwa ihr Hauptschulabschluss jemals etwas wert sein könnte.“ In solchen Fällen telefoniert Sylvia Rösch im Beisein der Gefangenen die Schulen und Ausbildungsstellen ab, um die Dokumente zusammenzubekommen.
Damit der Übergang in das Leben in Freiheit so nahtlos wie möglich verläuft, beginnt der eigentliche Bewerbungsprozess bereits Monate vor der Entlassung. Aber wie umgehen mit der Lücke im Lebenslauf? Sollte man den Gefängnisaufenthalt besser verschweigen, um die Chance auf einen Arbeitsplatz nicht von vorneherein zunichtezumachen? Für Sylvia Rösch ist das keine Option. Damit das Vertrauensverhältnis zum potenziellen Arbeitgeber nicht beschädigt wird, bevor es überhaupt entstehen konnte, legt sie den Inhaftierten immer nahe, schon bei der Bewerbung mit offenen Karten zu spielen. Oft fügen sie den Unterlagen daher eine sogenannte dritte Seite hinzu. „Das ist ein Anhang zum Lebenslauf, in dem man beschreibt, wie man früher war, wie man sich verändert hat und was man für die Zukunft plant“, erläutert Sylvia Rösch. „Es handelt sich also um eine Antwort auf die Fragen, die sich der Arbeitgeber beim Durchlesen eines Lebenslaufes stellt.“
© TÜV NORDZuhören, coachen, helfen, informieren: Sylvia Rösch bei der Arbeit.
Überdurchschnittlich gute Abschlüsse
Tatsächlich haben nicht wenige Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Interesse an einem Mitarbeitenden, der noch im Gefängnis sitzt. Denn die Jugendlichen und Erwachsenen, die in der JVA Neumünster oder anderen Haftanstalten eine Lehre absolvieren, haben fachlich viel zu bieten und häufig überdurchschnittlich gute Abschlüsse, berichtet Sylvia Rösch. Anders als in Freiheit gibt es im Gefängnis keine Ablenkung für Azubis; stattdessen haben sie Zeit, um sich voll und ganz auf ihre beruflichen Ziele zu konzentrieren. Und während in der freien Wirtschaft die Auszubildenden immer wieder für die anfallenden Aufgaben in der Produktion herangezogen werden, „bekommen sie hier jeden Tag Dinge vermittelt, die für ihren Beruf wichtig sind“, erzählt Sylvia Rösch. Die hohe Qualität und Intensität der Ausbildung führt außerdem dazu, dass die Lehrzeit im Gefängnis oft verkürzt wird – bei gleichen Bedingungen in der Abschlussprüfung. Und die Motivation der Jugendlichen ist hoch. „Wenn ich das erste Mal in meinem Leben etwas schaffe, was ich vorher nie geschafft habe – sei es meinen Hauptschulabschluss oder eine Ausbildung –, dann bin ich stolz und motiviert“, erklärt die Integrationsbegleiterin.
„Wenn ich das erste Mal in meinem Leben etwas schaffe, was ich vorher nie geschafft habe – sei es meinen Hauptschulabschluss oder eine Ausbildung –, dann bin ich stolz und motiviert.“
Kommen doch einmal Angst und Unsicherheit vor einer ungewissen Zukunft auf, greift Sylvia Rösch ihren Schützlingen unter die Arme: „In diesem Job muss man mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und dabei das Herz auf dem rechten Fleck haben. Sonst kann ich andere Menschen nicht mitziehen und motivieren.“ Dass ihr das gelingt, daran lässt ihre ebenso zupackende wie zugewandte Art keinen Zweifel. Aber auch ein wacher Blick und eine gute Menschenkenntnis sind für eine Integrationsbegleiterin unverzichtbar. Denn wer eine längere Zeit im Gefängnis gelebt hat, der neigt meist zu angepasstem Verhalten, führt die Psychologin aus. „Inhaftierte Menschen tun das, was von ihnen verlangt wird – weil sie es müssen. Die Herausforderung besteht also darin, zu erkennen, ob jemand draußen tatsächlich so verbindlich ist, wie er es im Vorfeld signalisiert hat.“
Vorstellungsgespräch mit Vorlauf
Eine Herausforderung für den Bewerbungsprozess stellen darüber hinaus die besonderen Umstände dar, die das Leben im Gefängnis mit sich bringt. Anders als Arbeitssuchende in Freiheit können die Häftlinge natürlich nicht spontan zu einem kurzfristig angesetzten Vorstellungstermin erscheinen. „Die benötigte Vorlaufzeit beträgt 14 Tage, und das wird auch in der Bewerbung so kommuniziert“, sagt Sylvia Rösch. Wenn dann eine Einladung zum Bewerbungsgespräch ins E-Mail-Postfach der Justizvollzugsanstalt flattert, bereitet sie die Einsitzenden auf die Vorstellungssituation vor und begleitet sie zum potenziellen Arbeitgeber. Läuft das Gespräch gut, wartet nach Vollzugsende bestenfalls ein Arbeitsplatz oder eine Ausbildungsstelle. Optimalerweise sollte zwischen Entlassung und Arbeitsbeginn ein Zeitpuffer von wenigen Wochen liegen. „Wenn Sie vielleicht vier oder fünf Jahre im Gefängnis gesessen haben, sind Sie von vielem komplett überfordert“, legt Sylvia Rösch dar, „angefangen vom Autoverkehr über den Straßenlärm bis hin zur Frage: ‚Was will ich denn heute essen, und was muss ich dafür einkaufen?‘.“ Sich in ein selbst bestimmtes Leben in Freiheit einzufinden braucht etwas Zeit. „Der Gefangene muss wieder lernen: ‚Wie organisiere ich meinen Tag, wenn ich acht Stunden arbeite und dann noch einkaufen, Wäsche waschen und die Wohnung aufräumen muss?‘ Es ist wichtig, dass sich hier schnell wieder eine Routine einstellt.“
Pläne für die ersten Schritte in Freiheit
Damit die Freiheit nicht zum Schock wird, bemüht sich Sylvia Rösch, die Inhaftierten bestmöglich auf die Entlassung vorzubereiten. Sie macht mit ihnen etwa konkrete Pläne, welche Behörden sie in welcher Reihenfolge aufsuchen müssen, und stellt ihnen dafür die Adressen und Öffnungszeiten zusammen. Ist der Tag der Entlassung gekommen, begleitet sie die Jugendlichen zu den Ämtern und steht ihnen auch sonst mit Rat und Tat zur Seite. Dabei ist klar: Anders als bei der Bewährungshilfe besteht bei der Integrationsbegleitung keine Verpflichtung zu regelmäßigen Besuchen. Die Entlassenen können frei entscheiden, welche Unterstützung sie wann brauchen und bekommen möchten. Und das ist auch immer eine Frage des Alters. „Die Erwachsenen melden sich vor allem bei konkreten Problemen, wenn ihnen etwa das Jobcenter oder die Krankenkasse Steine in den Weg legt.“ Dann klemmt sich Sylvia Rösch hinters Telefon und klärt das Problem mit dem jeweiligen Ansprechpartner. „Die Jugendlichen melden sich eigentlich alle“, erzählt die Integrationsbegleiterin. „Häufig wollen sie auch nur einen Kaffee mit mir trinken.“ Um sich zu versichern, dass die Beziehung über die Haftzeit hinaus Bestand hat.
Gerade deshalb wird sie aufmerksam, wenn sich einer der Entlassenen auffällig verhält. Als etwa einer der Jugendlichen sie aus seinen WhatsApp-Kontakten löschte, schrillten bei Sylvia Rösch die Alarmglocken. Ein Telefongespräch mit dem Ausbilder ergab: Der Junge hatte die Lehre geschmissen. Also informierte sie die Bewährungshilfe, um gemeinsam das weitere Vorgehen zu planen. „Wenn man merkt, hier könnte etwas entstehen, womit sich der Jugendliche schadet, greifen wir ein“, berichtet Sylvia Rösch. Um ihre Aufgabe bestmöglich zu erfüllen, arbeitet sie eng mit Bewährungshelfern, der Führungsaufsicht, den Ausbildern oder der Schule zusammen. „Von der Leitung bis zu jedem einzelnen Beamten haben hier alle ein Interesse daran, Menschen in ihrer Entwicklung zu unterstützen.“ Und immer wieder kann sie dabei erleben, wie ihre Schützlinge über sich hinauswachsen, wie sie ein Selbstwertgefühl entwickeln, schwerste Suchtprobleme meistern und im Berufsleben Fuß fassen: „Wenn jemand, von dem es niemand erwartet hätte, große Hürden in seinem Leben überwindet, an denen auch jeder andere hätte scheitern können, dann ist das etwas, das mich stolz und glücklich macht.“
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ZUR PERSON
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Diplompsychologin Sylvia Rösch von TÜV NORD Bildung ist Integrationsbegleiterin in der Justizvollzugsanstalt Neumünster.