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Stress

Arbeiten am Anschlag

20. Juli 2023

Rund 65 Prozent aller Menschen in Deutschland fühlen sich Umfragen zufolge oft oder manchmal gestresst. Häufigster Grund: die Arbeit. Das macht sich sogar in der Art und Weise bemerkbar, wie wir auf die Computertastatur tippen. Nadine Kakarot von MEDITÜV erklärt im Interview, was guten von schlechtem Stress unterscheidet und wie wir chronischer Überlastung entgegensteuern können.

 

#explore: Frau Kakarot, Forschende der ETH Zürich haben nachgewiesen, dass sich Stress durch Maus- und Tastaturnutzung messen lässt. Wie lief das Experiment konkret ab?

Nadine Kakarot: Die Forschenden der ETH haben 90 Menschen Büroaufgaben erledigen lassen und dabei sowohl ihr Maus- und Tastaturverhalten aufgezeichnet als auch ihre Herzratenvariabilität (siehe Kasten) gemessen. Einige der Probandinnen und Probanden konnten ungestört ihre Arbeit erledigen, andere wurden etwa durch Chat-Nachrichten immer wieder unterbrochen. Letztere bewegten dabei den Mauszeiger öfter und ungenauer und legten längere Wege am Bildschirm zurück. Außerdem machten sie mehr Fehler beim Tippen, schrieben abgehackter, mit vielen kurzen Pausen. Die entspannteren Probandinnen und Probanden machten beim Schreiben weniger, aber längere Pausen und gelangten mit der Maus auf kürzeren und direkteren Wegen an ihr Ziel.

 

Wie lässt sich das erklären?

Die Autorinnen und Autoren der Studie deuten das so: Erhöhter Stress wirkt sich negativ auf die Fähigkeit unseres Gehirns aus, Informationen zu verarbeiten. Dadurch werden auch unsere motorischen Fähigkeiten beeinträchtigt. Tatsächlich wird bei Stress dieselbe physiologische Reaktion ausgelöst wie bei unseren Vorfahrinnen und Vorfahren, wenn der Säbelzahntiger im Gebüsch raschelte: Cortisol wird ausgeschüttet, um die Muskeln zu versorgen, andere Funktionen fahren runter. In diesem Zustand kann ich gut kämpfen oder weglaufen, aber nicht unbedingt feinmotorische Tätigkeiten im Büro ausführen.

 

Zur Person

Also wäre Stress nicht der beste Zustand, um etwa ein Uhrwerk zusammenzusetzen?

Das kommt tatsächlich auf die Art des Stresses an. In der Forschung unterscheidet man seit den 1970er-Jahren zwischen positivem Eustress und negativem Distress. Der positive Stress ist ein Alarmzustand, um akute Krisensituationen zu bewältigen. Alle unsere Sinne sind geschärft, um die anstehende Aufgabe zu lösen. Wir geraten in einen Tunnel, einen Flow, in dem wir über uns hinauswachsen und dabei auch sehr fokussiert, effizient und präzise arbeiten können. Der Körper spult dabei ein erstaunliches Programm ab, um diese Ausnahmeleistungen zu ermöglichen: Unser Schmerzempfinden ist herabgesetzt und unsere Immunabwehr erhöht, weshalb wir in den Tagen vor einer Deadline nur selten krank werden. Bei länger anhaltendem Stress kehrt sich das ins Gegenteil um: Wir werden deutlich schmerzempfindlicher und krankheitsanfälliger, sind oft reizbar und schlafen schlecht.

 

Stress messen

Um den Stresslevel eines Menschen zu messen, gibt es unterschiedliche Methoden, die bei wissenschaftlichen Untersuchungen oft miteinander kombiniert werden. Dazu zählen der Hautwiderstand, Laborwerte wie der Cortisolspiegel, Fragebögen und die sogenannte Herzratenvariabilität: Anders als manche vermuten mögen, ist unser Herzschlag nicht völlig regelmäßig. Sind wir entspannt, schlägt unser Herz mit einer geringen Varianz, die sich im Millisekundenbereich bewegt. Bei körperlicher Belastung oder mentalem Stress wird der Herzschlag regelmäßiger, und auch der Abstand verringert sich.

Welcher Form von Stress waren die Probandinnen und Probanden in der Studie ausgesetzt?

Bei der Studie wurde nicht Langzeitstress, sondern eine andere Form von negativem Stress simuliert: der Stress, der durch ständige Störung entsteht, wie man ihn ja aus der Arbeit im Büro allzu gut kennt. Die Forschung spricht hier auch vom sogenannten Sägezahneffekt: Kaum haben wir uns in eine Aufgabe hineingedacht und sind in den Arbeitsfluss gekommen, werden wir von einer dringenden E-Mail herausgeworfen. Anschließend müssen wir große Anstrengung aufwenden, um wieder auf das Flow-Niveau zu kommen – um nach kurzer Zeit erneut herausgerissen zu werden. Dieses Auf und Ab der Aufmerksamkeit ähnelt grafisch einem Sägeblatt, daher der Name. Den Sägezahneffekt empfinden viele als zermürbend, denn wir Menschen sind fürs Multitasking einfach nicht gemacht. Insgesamt benötigen wir für die Aufgabe am Ende mehr Zeit, weil wir uns immer wieder in sie hineindenken müssen.

 

Eignen sich die bei dem Experiment erkannten Muster als Stress-Frühwarnsystem für den Arbeitsalltag?

Dass sämtliche Büroarbeitsplätze mit Stress messenden Tastaturen ausgerüstet werden, wäre arbeits- und datenschutzrechtlich sicher keine Option. Unternehmen dürfen schließlich nicht die Gesundheitsdaten ihrer Angestellten überwachen. Als persönliches Frühwarnsystem wäre eine solche Tastatur oder auch eine gängige Smartwatch durchaus eine Möglichkeit. Wenn sich Menschen an chronischen Stress gewöhnt haben, verlieren sie das Gespür für ihr eigenes Stresslevel, was im schlimmsten Fall ins Burn-out führen kann. Dabei gilt allerdings: Trotz aller körperlichen Indikatoren macht sich Stress von Mensch zu Mensch unterschiedlich bemerkbar. Darum versuchen wir in Beratungsgesprächen mit den Mitarbeitenden in Unternehmen immer herauszuarbeiten: Was sind deine persönlichen Warnsignale für Stress, wie fühlst du dich in stressigen Phasen? Das gibt diesen Menschen die Möglichkeit, eine bessere Wahrnehmung für ihre emotionalen Zustände zu entwickeln, Stress frühzeitig zu erkennen und ihm entgegenzuwirken.

Und wie mache ich das: Stress abbauen oder ihn bestenfalls vermeiden?

Die erste Frage ist immer: Kann ich etwas an den Arbeitsumständen verändern, die meinen Stress erzeugen? Kann ich Aufgaben abgeben, Termine streichen und meine Tätigkeiten insgesamt besser priorisieren? Natürlich gibt es unvermeidlich immer wieder Phasen mit höherer Arbeitsbelastung. Dann ist die Frage: Was brauche ich, um gut mit dem Stress umzugehen? Wichtig ist dabei, die eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu versuchen, nach der Arbeit einen Ausgleich zu schaffen. Bin ich unruhig und rastlos, kann mir Bewegung helfen, den Stress abzubauen. Bin ich erschöpft, ist die Badewanne vielleicht die bessere Wahl, anstatt mich zum Sport zu schleppen, nur weil ich es am Morgen so geplant habe. Intelligentes Stressmanagement orientiert sich am akuten Bedürfnis, das Entspannung oder Erholung schafft.

Was sind weitere Methoden, um dem Stress entgegenzusteuern?

Chronischer Stress führt häufig zu Niedergeschlagenheit, zu Unzufriedenheit bis hin zu depressiven Verstimmungen. Hier kann es helfen, den eigenen Fokus von der Belastung auf etwas Positives zu verschieben. Indem man sich abends vor dem Schlafengehen überlegt und notiert: Welche drei Dinge waren gut an diesem Tag? Das können auch Kleinigkeiten sein, etwa der nette Plausch mit der Verkäuferin in der Bäckerei. Wenn man das einige Wochen konsequent praktiziert, kann das die eigene Stimmung merklich verbessern.

Welche Rolle spielt das Thema Stress grundsätzlich in Ihrer Arbeit?

Stress ist ein großes Thema. Bei der Gefährdungsbeurteilung im Rahmen des Arbeitsschutzes schauen wir uns an, ob Arbeitsbedingungen so gestaltet sind, dass sie nicht zu chronischem Stress führen. Wir fokussieren uns dabei auf mögliche Konflikte in der jeweiligen Abteilung. Denn Konflikte führen immer zu Stress und haben oft einen systemischen Ursprung. Sehr häufig entstehen sie dort, wo Strukturen und Zuständigkeiten unklar sind. Außerdem geraten Teams, die oft unter hohem Zeitdruck arbeiten, auch häufiger in Konflikte. Wir beraten Unternehmen daher zunächst dahingehend, wie weit Organisationsstrukturen verändert werden können, um Stressfaktoren zu verringern. Erst in einem nächsten Schritt geht es in Einzelberatungen darum, wie die jeweiligen Mitarbeitenden besser mit Stress und Konflikten umgehen können.

 

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore