Gefährdungsbeurteilungen – Überblick und Tipps

Gefährdungsbeurteilungen – Überblick und Tipps

Beitrag vom 02.01.2023

Zur Themenwelt Arbeits- und Gesundheitsschutz

Gefährdungsbeurteilung: Arbeitsplatzrisiken richtig einschätzen lernen

Laut Statista sank die Anzahl der Arbeitsunfälle in Deutschland zwischen 1996 und 2021 von etwa 1,5 Millionen auf circa 800.000. Diese Reduzierung lässt sich sicherlich auch auf die europäische Richtlinie zum Arbeitsschutz zurückführen, die hierzulande 1996 in Kraft trat. Einer der wichtigsten Bestandteile eines soliden Arbeitsschutzes ist die Gefährdungsbeurteilung, zu der alle Unternehmen verpflichtet sind.  

Wir haben uns mit Heiner Blanke, Dipl.-Ing. für Sicherheitstechnik und Fachkraft für Arbeitssicherheit, über folgende Themen unterhalten:  

  • wie eine Gefährdungsbeurteilung definiert wird 
  • welche allgemeinen Gefahrenquellen sich an jedem Arbeitsplatz finden lassen  
  • wer für die Erstellung, die Durchführung der Maßnahmen und die Kontrolle verantwortlich ist 
  • welche Schritte für eine Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation notwendig sind  
  • wie sich Gefährdungsbeurteilungen bei der Telearbeit oder im Homeoffice durchführen lassen  

Definition: Was versteht man unter Gefährdungsbeurteilung?

Der § 5 des Arbeitsschutzes verpflichtet jedes Unternehmen zu einer Gefährdungsbeurteilung: „Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.“ Ziel ist es, herauszufinden, ob eine betriebliche Tätigkeit gesundheitliche Schädigungen oder Erkrankungen bei Mitarbeiter:innen hervorruft. 

Die erkannten Risikoquellen sollen auf ein Minimum reduziert oder gänzlich eliminiert werden. Heiner Blanke erklärt, dass diese Ermittlung rechtlich vorgeschrieben ist. „Früher mussten Arbeitgeber:innen viele konkrete Vorschriften einhalten ohne Wenn und Aber. Jetzt müssen sie selbst ermitteln, welche Gefährdungen auf die Beschäftigten einwirken, und festlegen, welche Schutzmaßnahmen zur Gesunderhaltung sie umsetzen.“  

Mit dem Arbeitsschutzgesetz 1996 begann die Liberalisierung, und in den folgenden Jahren wurden zahlreiche bindende Vorschriften als „Stand der Technik“ deklariert. Die Gefährdungsbeurteilung entwickelte sich dabei zum zentralen Mittel für die individuelle Festlegung der Schutzmaßnahmen auf Basis des Stands der Technik.  

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In welchen Bereichen können sich Risiken ergeben?

Die Risiken hängen vom individuellen Arbeitsplatz und von der jeweiligen Branche ab. Es gibt aber einige allgemeine Faktoren, die bereits im Arbeitsschutzgesetz § 5 Absatz 3 aufgelistet sind. Demnach können sich Gefahren ergeben durch: 

  1. die Gestaltung und die Einrichtung der Arbeitsstätte und des Arbeitsplatzes,  
  2. physikalische, chemische und biologische Einwirkungen,  
  3. die Gestaltung, die Auswahl und den Einsatz von Arbeitsmitteln, insbesondere von Arbeitsstoffen, Maschinen, Geräten und Anlagen sowie den Umgang damit,  
  4. die Gestaltung von Arbeitsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitszeit und deren Zusammenwirken,  
  5. unzureichende Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten und,  
  6. psychische Belastungen bei der Arbeit. 

Aufsichtsbehörden, die Gewerbeaufsicht und, das Amt für Arbeitsschutz und Berufsgenossenschaften haben sich in der Leitlinie der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) außerdem auf 11 Gefährdungsfaktoren geeinigt:     

  1. mechanische Gefährdungen  
  2. elektrische Gefährdungen  
  3. Gefahrstoffe  
  4. biologische Arbeitsstoffe  
  5. Brand- und Explosionsgefährdungen  
  6. thermische Gefährdungen  
  7. Gefährdung durch spezielle physikalische Einwirkungen  
  8. Gefährdungen durch Arbeitsbedingungen  
  9. physische Belastung/Arbeitsschwere  
  10. psychische Faktoren  
  11. sonstige Gefährdungen zum Beispiel durch andere Menschen, Tiere oder Pflanzen  

„Mit dieser Liste und deren Unterpunkten lässt sich ermitteln, welche Gefährdungen und Belastungen überhaupt vorliegen“, erläutert Blanke.  

Tipps zur Gestaltung der Gefährdungsbeurteilung

Arbeitgeber:innen sind verpflichtet, Gefährdungsbeurteilungen gemeinsam mit den festgelegten Maßnahmen zum Arbeitsschutz in einer Weise zu dokumentieren, dass sie bei einer möglichen Überprüfung nachvollziehbar ersichtlich sind (§ 6 Abs. 1 ArbSchG). Die Beurteilung und Dokumentation richtet sich nach der Art der Tätigkeit und der Anzahl der Beschäftigten.  

Arbeitgeber:innen steht die Wahl des Mittels der Dokumentation (Papier, digital) frei, sofern es aus Gründen der Betriebssicherheit und/oder spezieller Verordnungen (beispielsweise Gefahrenstoffverordnungen) keine speziellen Anforderungen an die Dokumentation gibt.  

Seit 1996 hat sich das Format einer simplen tabellarischen Auflistung eingebürgert. In einer Spalte werden die Ermittlungen der Risikoquellen festgehalten. In einer zweiten Spalte erfolgen die Beurteilungen und Bewertungen. In der dritten Spalte können die Schutzmaßnahmen beschrieben werden. In der letzten Spalte sollte die Dokumentation noch einmal Auskunft darüber geben, wer zuständig ist und bis wann der evtl. Handlungsbedarf umgesetzt sein soll.  

Wer muss eine Gefährdungsbeurteilung innerhalb des Unternehmens durchführen?

Führungskräfte dürfen diese Aufgabe an innerbetriebliche oder externe Fachkräfte für Arbeitssicherheit delegieren, bleiben aber weiterhin verantwortlich. Bei der Erstellung kommt es stets auf ein Zusammenwirken zwischen den Führungskräften, der Fachkraft für Arbeitssicherheit, den lokalen Sicherheitsbeauftragten und ggf. weiteren Spezialisten an.  

Heiner Blanke ergänzt: „Arbeitgeber:innen und ihre Führungskräfte haben nicht immer die Fachkenntnis, also müssen sie entsprechendes Fachpersonal hinzuziehen.“ Selbst Fachkräften für Arbeitssicherheit (FaSi) fehlt in manchen Arbeitsumgebungen die Expertise. Blanke erinnert sich in diesem Zusammenhang an eine Gefährdungsbeurteilung für Tätigkeiten der TÜV NORD Systems-Prüfer von Offshore-Windenergieanlage: „Ich kenne mich zwar mit den rechtlichen Vorgaben und der Dokumentation aus, bin aber nur ein Allrounder. Daher mussten wir einen speziellen Prüfer des TNSystems hinzuziehen, der erklärte, was vor Ort für den Gesundheitsschutz notwendig war. Diese spezifischen Fachkenntnisse sind zweifelsohne erforderlich.“ 

Hinweis zu Konsequenzen bei Nachlässigkeit

Nachlässigkeit bei der Gefahrenermittlung und -begrenzung kann böse Konsequenzen nach sich ziehen. Vorsätzliches Handeln entgegen dem Arbeitsschutzgesetz gilt als Ordnungswidrigkeit, bei der Geldbußen von bis zu 25.000 Euro drohen (§ 25 ArbSchG). Wird fahrlässiges Verhalten nachgewiesen, kann die gesetzliche Unfallversicherung den Verantwortlichen unabhängig von einer etwaigen Geldbuße in Regress nehmen. Die Rettungsleitstelle muss die zuständige Strafverfolgungsbehörde informieren, wenn sie zu einem Arbeitsunfall mit schwerer Verletzungsfolge gerufen wird. Bei Problemen mit dem Arbeitsschutz kann ein:e Fachanwält:in für Arbeitsschutz helfen.

Organisation der Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung

Die Organisation einer Gefährdungsbeurteilung hängt vom individuellen Unternehmen und dessen Umständen ab. Folgende Schritte gehören aber in jedem Fall dazu, unabhängig davon, ob es sich um eine Schlachterei, Gießerei oder ein Großraumbüro mit 300 Bildschirmarbeitsplätzen handelt:  

1. Gefahrenanalyse: Ermittlung konkreter Gefahrenquellen, also die Stellen des Arbeitsbereichs, an denen Unfälle geschehen, und die Arbeitsplätze, die Erkrankungen verursachen können.  

2. Risikoeinschätzung/
Gefahrenbewertung:
Die anschließende Frage lautet: Wie groß ist die Gefahr?

Gefährdungsbeurteilung in fünf Schritten

„Offiziell sagt man dazu Eintrittswahrscheinlichkeit. Wie gefährlich ist beispielsweise eine heraushängende Steckdose?“ In den Augen des Experten ist eine Risikoeinschätzung immer ein wenig subjektiv, daher sollte aus einer Gefährdungsbeurteilung hervorgehen, wer die Analyse vorgenommen hat und über welche Qualifikationen diese Person verfügt. „Für Elektriker:innen erscheint die Gefahr geringfügig, weil sie das Hintergrundwissen besitzen, um das Problem schnell zu beheben. Auf eine Reinigungskraft, die mit Wasser putzt, wirkt das Risiko weitaus größer.“  

3.Ableitung spezifischer Arbeitsschutzmaßnahmen: Um Gefahren zu minimieren oder zu eliminieren, müssen die richtigen Maßnahmen implementiert werden. Hier steht den Führungskräften das S-T-O-P-Prinzip zur Verfügung:  

- Substitution: Gefährdung kapseln (z. B. Einhausung, Abschirmung)

- organisatorische Maßnahmen: Gefährdung und Menschen voneinander trennen (z. B. zeitliche Trennung, Änderung der Arbeitsorganisation, Arbeitsgestaltung) 

- persönliche Maßnahmen: Mensch kapseln mit Schutzausrüstung (z. B. Handschuhe, Helm, Sicherheitsschuhe) 

- verhaltensbezogene Schutzmaßnahmen: Schulungen, Einweisungen, sicherheitsgerechtes Verhalten fördern

Das STOP-Prinzip im Arbeitsschutz

4. Überprüfung der Wirksamkeit: Ob die Maßnahmen die gewünschte Wirksamkeit zeigen, lässt sich erst im Nachhinein feststellen. Gegebenenfalls können aber Anpassungen vorgenommen werden, um den Arbeitsschutz zu optimieren. In der Praxis hat sich der regelmäßige Austausch in einem Arbeitsschutzausschuss bewährt, da hier der Betriebsarzt, die Fachkraft für Arbeitssicherheit, Sicherheitsbeauftragte, ggf. Mitglieder aus dem Betriebsrat und die Geschäftsführung vertreten sind.  

Die Gefährdungen für besonders schutzbedürftige Personen wie Menschen mit Behinderungen, Jugendliche (beispielsweise Ferienjobber oder Azubis) oder Schwangere sind identisch mit allen anderen Mitarbeitenden. Die daraus abgeleiteten Sicherheitsmaßnahmen erfordern jedoch individuelle Anpassungen.

Herr Blanke führt weiter aus: „Ein junger Azubi hat eine andere körperliche Konstitution als ausgewachsene Beschäftigte. In solchen Fällen schaltet sich häufig ein Betriebsarzt ein. Dasselbe gilt für werdende oder stillende Mütter, die nicht nur auf ihre eigene Gesundheit, sondern auch auf den Schutz des Ungeborenen achten müssen.“  

Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung

Die Regelmäßigkeit einer Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung hängt vom jeweiligen Betrieb ab. Das Arbeitsschutzgesetz gewährt auch hier gewisse Freiheiten: „Wenn mein Arbeitsplatz seit Jahren unverändert bleibt, muss dieser nicht ständig neu beurteilt werden. Treten jedoch neue Regelungen in Kraft oder kommt es zu organisatorischen oder technischen Änderungen, ist eine neue Gefährdungsbeurteilung notwendig.“  

Ein Beispiel für eine solche Änderung könnte für Reinigungskräfte der Austausch eines gefährlichen durch ein ungefährliches Reinigungsmittel sein. „Bei Ersterem müssen Mitarbeiter:innen unter Umständen eine Atemschutzmaske, Handschuhe und eine Schutzbrille tragen, damit ihnen nichts ins Auge spritzt. Bei einem umweltschonenden Reiniger sind diese PSA möglicherweise nicht erforderlich und somit die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten wesentlich angenehmer.“ Die Beurteilung sollte also dementsprechend angepasst werden.  

Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz der Zukunft

Neue Arbeitsmodelle wie zum Beispiel Hybridarbeitsplätze, mobile Arbeit, Telearbeit und Homeoffice gewinnen an Popularität. Arbeitgeber:innen müssen auch unter diesen Bedingungen für die Gesunderhaltung ihrer Mitarbeiter:innen sorgen und prüfen, ob Gefährdungen vorliegen oder sie sich psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sehen. „Beim Telearbeiten und mobilen Arbeiten gibt es natürlich eine Diskrepanz: Arbeitgeber:innen können nicht mehr sehen, wo die Beschäftigten sitzen.“ Die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättVO) definiert seit 2016/17 deswegen die Bedingungen für einen Telearbeitsplatz im Privatbereich der Beschäftigten.  

Unternehmen und Mitarbeitende müssen in diesem Fall zusammenarbeiten. Aufgrund des Artikels 13 im Grundgesetz dürfen Arbeitgeber:innen nämlich nur mit ausdrücklicher Zustimmung durch die Angestellten die Wohnung betreten. „Es ist also ein Zusammenspiel gefordert. Arbeitnehmer:innen sollten Informationen und Unterweisungen über Ergonomie am Bildschirmarbeitsplatz und eine gesunde Einrichtung erhalten.“ Blanke schlägt vor, Mitarbeitenden eine Checkliste an die Hand zu geben. Somit sind sie in der Lage, das eigene Homeoffice zu untersuchen, es zu bewerten und ihre Beurteilung beispielsweise anhand von Fotos zu dokumentieren. Alternativ lassen sich digitale Tools einsetzen: Mit einem Video-Call wie Facetime ist beispielsweise eine Besichtigung des Homeoffice durch Gesundheits- und Ergonomie-Expert:innen aus der Ferne durchführbar.  

Zusammenarbeit, Expertise und Anpassung stets ein Teil der Gefährdungsbeurteilung

Bei der Gefährdungsbeurteilung handelt es sich stets um Kollaborationsarbeit. Unternehmer:innen sind zwar dazu verpflichtet, dürfen diese Aufgabe aber weiterleiten und das Hintergrundwissen von entsprechenden Expert:innen in Anspruch nehmen. Das gilt vor allem, wenn sie die Gefahrenpotenziale spezieller Arbeitsumgebungen nicht selbst beurteilen können. Mitarbeiter:innen und ihre Achtsamkeit sind an dieser Stelle ebenfalls gefordert. Es obliegt jedoch den Führungskräften, ihren Mitarbeitenden die für ein gesundes und sicheres Arbeitsumfeld erforderlichen Hilfsmittel an die Hand zu geben.   

Dank der Freiheiten, die das Arbeitsschutzgesetz den Unternehmen individuell zugesteht, kann sich der Arbeitsschutz mittels Gefährdungsbeurteilung stets weiterentwickeln und an neue Gegebenheiten und Arbeitsplatzmodelle anpassen. Auf diese Weise lassen sich kreative Wege finden, um die Sicherheit und Gesunderhaltung von Mitarbeiter:innen zu garantieren, denn gesunde Beschäftigte sind die Basis für den Unternehmenserfolg.