Klinische Bewertung von Medizinprodukten: Das ändert sich

Klinische Bewertung von Medizinprodukten: Das ändert sich

Beitrag aktualisiert am 09.11.2021

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Was sind klinische Bewertungen bei Medizinprodukten – und warum sind sie so wichtig?

Hersteller, die ein Medizinprodukt auf den Markt bringen wollen, müssen dessen Leistungsfähigkeit und Sicherheit nachweisen. Dazu dient eine klinische Bewertung, in der die Hersteller objektive Daten aus der Fachliteratur oder zum Beispiel aus bestehenden klinischen Studien analysieren und bewerten. Sie ist Teil der technischen Dokumentation und muss nach der Markteinführung in regelmäßigen Abständen aktualisiert werden.

Das neue EU-Gesetz forciert die klinische Bewertung zudem für eine Zulassung des Produkts mit dem CE-Kennzeichen – ohne CE-Zeichen dürfen Medizinprodukte in der EU nicht in Verkehr gebracht werden. In vielen Fällen erfordert die Zulassung neben einer klinischen Bewertung auch eine klinische Prüfung, die für die Hersteller mit besonders viel Aufwand verbunden ist.

Medical Device Regulation (MDR) kommt, Medical Device Directive (MDD) geht

Wie und mit welchen Inhalten genau klinische Bewertungen erstellt werden müssen, regeln eine Menge Normen und Vorschriften. Doch eine neue, veränderte Gesetzeslage erhöht den Anspruch zusätzlich: Mit dem Ende der Übergangsfrist am 26. Mai 2021 für die bisherige europäische Richtlinie über Medizinprodukte, die Medical Device Directive (MDD) gilt die neue EU-Verordnung: die Medical Device Regulation (MDR) oder auch Europäische Medizinprodukteverordnung – mit deutlich schärferen Anforderungen.

„Somit kann man beispielsweise klinische Bewertungen und klinische Prüfungen vergleichbarer Produkte nicht mehr einfach nach dem Äquivalenzprinzip übernehmen“, sagt der Auditor und Trainer Alexander Bertel. „Das erhöht den Aufwand an Zeit und Personal in den Unternehmen erheblich.“ Auch die Anforderungen an die Kompetenzen der zuständigen Mitarbeiter nehmen zu: „Manche Unternehmen brauchen eventuell externe Experten, um ihre klinischen Bewertungen und Prüfungen rechtskonform durchzuführen“, so Bertel.

MDR und MDD: Unterschiede im Überblick

Wichtig bei der Umsetzung der Anforderungen: „Die Hersteller müssen sämtliche klinische Bewertungen gemäß den Anforderungen der MDR aktualisieren“, betont Alexander Bertel. Die wesentlichen Änderungen im Überblick:

  • erhöhte Anforderungen an die klinische Sicherheit und den Nachweis der klinischen Leistung
  • klinische Bewertung gegebenenfalls einschließlich klinischer Prüfungen
  • klinische Überwachung nach dem Inverkehrbringen (klinische Post-Market Surveillance, kurz: PMS)
  • klinische Dokumentation und Berichtswesen
  • Einführung des Scrutiny-Verfahrens

Klassifizierung von Medizinprodukten: höhere Klassen und neue Produkte

Die MDR beinhaltet zudem diverse Änderungen, wodurch sich auch die Gefahrenklasse einiger Produkte erhöhen kann. Software beispielsweise fällt kaum noch in die Klasse I, sondern meist in Klasse IIa oder höher. Auch invasive Regelsysteme und Implantate, die bisher der Klasse IIb angehörten, können unter Umständen künftig in die Klasse III fallen.

Hersteller, die Medizinprodukte bereits nach MDD/AIMDD (Active Implantable Medical Devices Directive) in den Verkehr gebracht haben, müssen deshalb rechtzeitig die neuen Klassifizierungsregeln überprüfen und bei Bedarf ihre technische Dokumentation einschließlich der klinischen Bewertung aktualisieren. Bei Medizinprodukten der Klassen IIa, IIb und III kann sogar eine neue klinische Bewertung vonnöten sein.

Wer muss die neuen Regeln anwenden?

Ob Brille, Kontaktlinsen oder Ultraschallgerät: Grundsätzlich müssen alle Firmen, die in Deutschland Medizinprodukte nach der neuen Definition der MDR herstellen, in Verkehr bringen oder daran mitwirken, die neuen Regeln anwenden – unabhängig von deren Risikoklasse. Dazu gehören:

  • Hersteller von Medizinprodukten
  • Händler/Importeure von Medizinprodukten
  • Entwickler von Medizinprodukten

Von den Autorinnen und Autoren klinischer Bewertungen fordert die MDR eine entsprechende Qualifikation – vom Hochschulstudium über Grundkenntnissen im Qualitätsmanagement bis zu Kenntnissen der entsprechenden Regelwerke für Medizinprodukte. Medizinprodukte-Berater und -Beraterinnen müssen ihre Qualifikation künftig stärker nachweisen und aufrecht halten. Entsprechende Zertifikate können sie im Rahmen einer berufsbegleitenden Fortbildung erwerben, zum Beispiel an der TÜV NORD Akademie.

Das müssen Unternehmen tun, um die neuen Anforderungen zu erfüllen

„Die Unternehmen sollten generell prüfen, wo sie aktuell stehen“, rät Coach Alexander Bertel. „Manche sind schon gut aufgestellt, andere müssen ihre Prozesse neu organisieren – etwa in der Produktentwicklung oder im Qualitätsmanagement.“ Fest steht: Alle klinischen Bewertungen müssen im Rahmen ihres regulären Überwachungszyklus auf den Prüfstand. „Einen Bestandsschutz gibt es nicht“, sagt Bertel.

Die größte Herausforderung: „Die Hersteller müssen fachlich bewerten können, inwieweit ihre Inhalte den erhöhten Anforderungen entsprechen“, so der Experte Alexander Bertel. Und sie benötigen die erforderlichen personellen Ressourcen. In beiden Fällen helfen Schulungen.

Die MDR in der Praxis

Wie geht es Herstellern von Medizinprodukten mit den neuen Bestimmungen der MDR an klinische Bewertungen? Vor welchen Herausforderungen stehen sie und wie können Sie den Aufwand bewältigen? Wir haben bei Auditor und Trainer Alexander Bertel nachgefragt.

Auf was achten benannte Stellen bei der klinischen Bewertung von Medizinprodukten besonders?

"Auf die Qualität der Quellen, die Durchgängigkeit, die Struktur und die objektiven Nachweise. Leider wird viel schlampig dokumentiert. Es gibt viele Nacharbeitszyklen. Eine Besonderheit in diesem Zusammenhang besteht darin, dass wir als Auditoren nicht beraten dürfen. Das heißt, dass Unternehmen oft im Dunkeln stochern, wenn sie nacharbeiten müssen, was für Mitarbeiter eine große Belastung darstellt."

Also ist das Thema MDR und klinische Bewertung von Medizinprodukten für betroffene Unternehmen eine Herausforderung?

"Absolut. Es bedeutet einen hohen Mehraufwand an Zeit und Ressourcen, um die höheren Anforderungen zu erfüllen. Große Unternehmen tun sich leichter, weil sie Spezialisten haben, die sich in das Thema einarbeiten und recherchieren. In kleinen Unternehmen ist das Thema oft ein Add-on, das dem Qualitätsmanagement zugeschoben wird. Unterstützend bieten sich hier Fortbildungen an."

 

Wie lässt sich der zusätzliche Aufwand am besten bewältigen?

"Wichtig ist, dass die RA-Abteilung auf dem neuesten Stand ist, was zum Beispiel Neuerungen bei Normen und Standards, gemeinsame Spezifikationen und nachgelagerte Rechtsakten betrifft. Auch im Qualitätsmanagement ist ausreichende Expertise notwendig. Diese kann beispielsweise durch entsprechende Seminare erlangt werden. Insgesamt müssen Unternehmen mehr Zeit und Ressourcen einplanen. Um das zu stemmen, ist manchmal externe Unterstützung sinnvoll."

Auch die Auditoren klinischer Bewertungen sind mit höheren Anforderungen konfrontiert, oder?

"Absolut. Auch Auditoren müssen sich zu den Themenfeldern, in denen sie keine Kompetenz besitzen, weiterbilden. Teilweise verlieren sie nämlich Ihre Zulassung, wenn sie nicht die nötigen Kompetenzen mitbringen."